Mordprozess um Brandanschlag auf Asylbewerber vor 32 Jahren
19. September 2023Die furchtbare Erfahrung liegt 32 Jahre zurück. Er habe versucht zu vergessen, sagt Joe E. (Name geändert) der DW. Aber: "Als ich die Vorladung bekam, kam alles wieder hoch." Die Vorladung zur Aussage in einem Prozess, den es gibt, weil Mord in Deutschland nicht verjährt. Seit November 2022 hat das Oberlandesgericht Koblenz versucht zu klären, was genau in den frühen Morgenstunden des 19. September 1991 in Saarlouis geschah, einer 35.000-Einwohner Stadt im Saarland, ganz im Westen Deutschlands, und wie es dazu kam. Damals haben einer oder mehrere Täter Benzin auf die Holztreppe einer Asylbewerberunterkunft geschüttet und angezündet.
Das Feuer breitete sich schnell aus in dem ehemaligen Hotel. Dort lebten damals geflüchtete Menschen aus Ghana, Nigeria, der Elfenbeinküste, Mauretanien, dem Sudan und Jugoslawien. Samuel Kofi Yeboah (27) aus Ghana starb qualvoll.
"Ich sterbe, ich sterbe"
Drei laute Explosionen wecken Joe E. in dieser Nacht - zum Glück, sagt er, "vielleicht wäre ich sonst auch gestorben". Er geht zum Treppenhaus: "Dann sah ich Rauch und Flammen - die ganze Wand komplett in Flammen." Laut ruft er nach einem Freund oben im Haus: "Er kam durch das Feuer, er war teilweise verbrannt und verletzt." Zwei junge Männer aus Nigeria erleiden beim Sprung aus dem Fenster Knochenbrüche. Eine Französin, die damals im Haus zu Gast war, schildert 32 Jahre später vor Gericht, wie Menschen schrien und aus den Fenstern sprangen. Sie weint dabei.
Joe E. erinnert sich, dass sie plötzlich Hilferufe hören, von Samuel Yeboah, der im Dachgeschoss wohnt: "Er schrie in seiner Sprache, 'Mewuo ye, mewuo ye. Ich sterbe, ich sterbe'." Flammen haben ihn eingeschlossen, die anderen können nicht helfen. Er verstummt. Feuerwehrleute bergen ihn mit schwersten Brandverletzungen am ganzen Körper. Der 27-Jährige versucht noch, mit ihnen zu sprechen.
Drei Stunden später stirbt der junge Mann aus Ghana im Krankenhaus. Samuel Yeboah sei ein sehr liebenswerter Mensch gewesen, erinnert sich Joe E.; er habe geboxt, Fußball gespielt und viele deutsche Freunde gehabt.
Signale an Betroffene und Täter
Noch in der Brandnacht verhört die Polizei Überlebende. Sie ermittelt Richtung Drogenhandel und organisierter Kriminalität. Mitglieder der Neonazi-Skinhead-Szene in Saarlouis vernimmt sie erst eine Woche später, schließt diese Spur schnell ab. 1992, nach einem knappen Jahr, stellt sie die Ermittlungen ganz ein.
Bereits einen Monat vor dem Feuer in seinem Wohnheim hatte es einen Brandanschlag auf ein anderes Wohnheim für Geflüchtete in Saarlouis gegeben. Joe E., der Bekannte dort hatte, sagt, in beiden Wohnheimen habe es Drohbriefe gegen die Bewohner gegeben: "Wir sollten zu unserem 'Dschungel' gehen, oder wir werden alle getötet." Ein 1991 ermittelnder Polizeibeamter sagte im Koblenzer Prozess aus, "ausländerfeindliche Übergriffe" habe es in Saarlouis nicht gegeben.
"Man hat den Eindruck, dass die Polizei das behandelt hat wie einen Lausbubenstreich. Dabei hat hier ein Mensch sein Leben verloren, weitere sind für ihr Leben schwer geschädigt worden", sagt Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).
"Mit diesem Desinteresse der Strafverfolgungsbehörden in den 1990er Jahren ist den Betroffenen signalisiert worden: 'Euer Leben ist aus unserer Perspektive nichts wert'. Den Tätern und Sympathisanten wurde signalisiert: 'Ihr kommt straffrei davon'." Erst nach der Festnahme des Angeklagten im April 2022 entschuldigte sich der Polizeipräsident des Saarlands für Defizite in der Polizeiarbeit.
Dabei ordnete schon der Verfassungsschutzbericht 1991 den tödlichen Anschlag als Gewalttat mit rechtsextremistischem Hintergrund ein,es war einer von vielen Brand- und Sprengstoffanschlägen im Saarland. Betroffene, die weiter dort leben, könnten sich bis heute nicht sicher fühlen, sagt Kleffner.
"Die Wahrheit muss ans Licht"
Über 30 Jahre nach dem Brandanschlag sagt Joe E., er sei froh, dass es zum Prozess gekommen ist. "Die Wahrheit muss ans Licht." Als Zeuge vor Gericht sitzt er wenige Meter entfernt vom Angeklagten Peter S. aus der damaligen Neonazi-Skinhead-Szene in Saarlouis. Gegen zwei weitere Verdächtige wird mittlerweile ermittelt. Der Mann, der als Anführer der rechtsextremistischen Szene galt, ist seit Juni in Untersuchungshaft.
Dem Angeklagten wirft die Bundesanwaltschaft Mord, versuchten Mord und Brandstiftung aus nationalsozialistischer und rassistischer Überzeugung vor. Im Prozess wurde ein Foto von ihm in SS-Uniform mit Hakenkreuzbinde gezeigt. Zunächst hatte die Verteidigung gesagt, er habe während der Brandnacht geschlafen.
Nachdem das Gericht signalisiert hatte, dass er mit einer Verurteilung rechnen muss, ließ Peter S. über seinen Anwalt erklären, dass er dabei gewesen sei, als ein anderer Mann aus der Skinhead-Szene im Asylbewerberheim Benzin ausgeschüttet und angezündet habe.
Nach dem Anschlag kam die Angst
"Es war die Hölle auf Erden", so erinnert sich Joe E. an die Brandnacht. "Ich leide darunter noch heute, denn wir haben keine Hilfe bekommen." Er sei traumatisiert und habe schwere Depressionen. "Das hat mein Leben geprägt."
Joe E. hörte mehr als 30 Jahre nichts von den Behörden im Saarland. Abgesehen von einem Abschiebebescheid, den er kurz nach dem Anschlag bekam, ebenso wie mindestens ein weiterer Überlebender. Erst dieses Jahr erhielt er einen Brief der saarländischen Opferschutzbeauftragten, in dem sie Unterstützung anbietet. Sieben Überlebende konnten nicht mehr ermittelt werden.
Wie Yeboah aus Ghana war auch Joe E. aus Nigeria vor einer Militärjunta in seiner Heimat geflohen. Vor dem Anschlag habe er keine Angst gehabt, betont der stattliche Mann mit tiefer Stimme. Er habe einen schwarzen Gürtel in Kung Fu: "Ich kann mich verteidigen."
Heil-Hitler-Rufe und Morddrohungen
Schon vor dem Anschlag hätten ihn andere Geflüchtete vor den Skinheads in Saarlouis gewarnt. Zum Einkaufen seien sie zu fünft oder sechst gegangen. "Sobald die Skinheads in der Mehrzahl waren, waren sie eine Bedrohung". Er erinnert sich an üble rassistische Beschimpfungen, zum Hitler-Gruß hochgereckte Arme und Heil-Hitler-Rufe vor dem Wohnheim.
"Wir haben uns angezogen für die Kirche. Leute fuhren vorbei, schrien 'Heil Hitler' und bewarfen mich mit Joghurt." Rassismus und Morddrohungen seien Alltag gewesen. Die Polizei habe ständig die Geflüchteten kontrolliert: "Ausweis, Papiere, Passport please."
Mindestens 1250 rechte Brandanschläge
An vielen Orten in Deutschland brannten in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung Flüchtlingsunterkünfte. Die Anklage spricht von einer "Pogromstimmung" angesichts bundesweiter rechtsextremistischer Ausschreitungen gegen Asylsuchende. Polizei und Verfassungsschutzbehörden registrierten zwischen 1990 und 1994 mindestens 1250 rechte Brandanschläge, sagt Heike Kleffner. Kriminologen gehen von einer Aufklärungsquote von maximal 20 Prozent aus.
Einen rechtsextremistischen Hintergrund in Saarlouis erkannte 1991 nicht nur der Verfassungsschutz. "Wir trauern um Samuel Yeboah, ermordet von Faschisten und rassistischer Hetze", mit solchen Transparenten protestierten hunderte Menschen schon kurz nach dem Brandanschlag bei einem "Wut- und Trauermarsch".
Die Stadt Saarlouis spricht erst zum 32. Jahrestag von einem rassistischen Anschlag. Drei Organisationen hielten über Jahrzehnte das Gedenken an Samuel Yeboah wach: der saarländische Flüchtlingsrat, die Antifaschistische Aktion Saar und die Aktion 3. Welt Saar.
In einer Zeitungsanzeige mahnen sie am Jahrestag: "Der Hass auf Migrant:innen und Geflüchtete ist heute wie damals brandgefährlich." Sie fordern, dass an einer prominenten Stelle der Stadt eine Gedenktafel für Samuel Yeboah angebracht wird.
Geständnis auf Grillparty?
Dass es zu neuen Ermittlungen und zum Prozess gegen Peter S. kam, ist einer Zeugin zu verdanken. "Das war ich und sie haben mich nie erwischt", diese Worte soll der Angeklagte 2007 zu der Zeugin über den Brandanschlag in Saarlouis gesagt haben - auf einer Grillparty. Als sie 2019 erfuhr, dass durch den Anschlag ein Mensch getötet wurde, hat sie das der Polizei gemeldet. So hat sie es im Prozess unter Eid bekräftigt.
Anders als 1991 leiteten Staatsanwaltschaft und Polizei nach diesem Hinweis mit Durchsuchungen, Abhörmaßnahmen und vielen Zeugenbefragungen intensive Ermittlungen gegen die rechte Szene in Saarlouis ein. Der Generalbundesanwalt (GBA), die Staatsanwaltschaft des Bundes, übernahm den Fall, klagte an. Seit zehn Monaten läuft der Prozess unter Leitung des Vorsitzenden Richters Konrad Leitges. "Wir lassen nicht locker, wir drehen jeden Stein um", sagt er einem Zeugen.
Entschuldigung und Aufklärung
Im Juni 2023 erkennt Anke Rehlinger (SPD) als erste Regierungschefin des Saarlands an: "Es war eine rassistisch motivierte Tat." Sie wendet sich an die Überlebenden: "Im Namen der saarländischen Landesregierung bitte ich die Opfer und Angehörigen des Brandanschlags von Saarlouis um Entschuldigung für Fehler der damaligen Zeit."
Sie kündigt einen Entschädigungsfonds für Opfer schwerer Gewalttaten an. Im Oktober soll die politische Aufarbeitung des Mordes an Samuel Yeboah und weiterer Anschläge beginnen. Bei der Debatte über den Untersuchungsausschuss sagt ein Landtagsabgeordneter: "Diejenigen, die schwere Straftaten begangen haben, müssen auch noch nach vielen Jahrzehnten nicht gut schlafen können". Sie müssten damit rechnen, dass "der Rechtsstaat noch einmal kommt und sie bestraft."
Signalwirkung für tausende Überlebende
Neben der Botschaft an die Täter könnte der Prozess auch für Tausende Überlebende rassistischer und rechter Gewalttaten der 1990er Jahre eine Signalwirkung haben, sagt Heike Kleffner. An diesem Beispiel könnten sie erfahren, dass der Staat - anders als damals - ihren Schutz ernst nehme.
"Ich dachte die ganzen Jahre, dass man mich vergessen hat", sagt Joe E. Jetzt hoffe er, auch für seinen Freund Samuel Yeboah, "dass wir Gerechtigkeit bekommen, dass er nicht umsonst gestorben ist". Das Urteil wird für Oktober erwartet.