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Gesellschaft

Die Wunde von Solingen

29. Mai 2018

Fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen starben am 29. Mai 1993, als Rechtsextremisten ihr Haus anzündeten. Die fremdenfeindliche Stimmung war damals auf einem Höhepunkt. Und die Politik traf umstrittene Entscheidungen.

Deutschland Brandanschlag in Solingen
Bild: Imago/Tillmann Pressephotos

"Ausländer raus!" Diese Parole mutierte Anfang der 1990er Jahre zum Soundtrack eines vielerorts offen fremdenfeindlichen Deutschland. Die Ursachen dafür waren vielfältig. Im Osten des Landes, auf dem Gebiet der früheren DDR, war nach der Wiedervereinigung die vorher staatlich gelenkte Planwirtschaft kollabiert. Millionen Menschen wurden arbeitslos oder fühlten sich aus anderen Gründen als Bürger zweiter Klasse. Auf der Suche nach einem Sündenbock kamen da manchen "die Ausländer" gerade recht.

Im August 1992 sorgte die pogromartige Belagerung von Häusern in der Hansestadt Rostock, in denen überwiegend Vietnamesen wohnten, weltweit für Schlagzeilen, neun Monate später brannte im westdeutschen Solingen (Nordrhein-Westfalen) ein Fachwerkhaus. In den Flammen kamen fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen ums Leben. Saime Genç war mit vier Jahren das jüngste Opfer, Gürsün İnce mit 27 das älteste. Hatice Genç wurde 18, Gülüstan Öztürk zwölf, Hülya Genç nur neun Jahre alt. Die Tragödie war kein Unglücksfall, sondern das Werk von Rechtsextremisten, die im Schutze der Nacht gezielt Feuer gelegt hatten.

Drei Tage vorher verschärfte der Bundestag das Asylrecht

Die Tat von Solingen geschah drei Tage, nachdem der Deutsche Bundestag das Asylrecht massiv eingeschränkt hatte. Dafür änderten die Regierungskoalition aus Konservativen (CDU/CSU) und Freien Demokraten (FDP) mit Unterstützung der oppositionellen Sozialdemokraten (SPD) das Grundgesetz. Auf der Basis des Artikels 16 der Verfassung galt in Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt ein schrankenloses Asylrecht. Mit seiner Abschaffung reagierte die Politik auf die seit Ende der 1980er Jahre massiv steigende Zahl von Asylbewerbern.

Wo 1993 in Solingen fünf Menschen von Rechtsextremisten ermordet wurden, blühen heute KastanienBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Lange Zeit lag die bei weit unter 100.000. Fast 200.000 Anträge waren es 1990 und zwei Jahre später mehr als doppelt so viele (438.191). In dieser Zeit waren rechtsradikale Parteien wie die Republikaner auch im Westen Deutschlands bei Wahlen  sehr erfolgreich. Mit fast elf Prozent erzielten sie 1992 im wirtschaftlich traditionell starken Baden-Württemberg ihr bestes Ergebnis. Im Osten gelangten sie, wie auch die NPD, erst später in die Landtage. 

Anetta Kahane: Die Stimmung war "vergiftet"

Parallelen zwischen der explosiven Stimmung vor 25 Jahren und der Situation heute sieht die Leiterin der in Berlin ansässigen antirassistischen Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane. Die Frage, wie viele Flüchtlinge kommen können, sei an die Frage gekoppelt, "ob es nicht überhaupt schon zu viel Überfremdung gibt". Diese Vermengung und die Tatsache, dass Ausländer und Flüchtlinge als Eindringlinge und Fremdkörper betrachtet würden, "hat die Stimmung sehr vergiftet".

Anetta Kahane, Leiterin der Amadeu Antonio StiftungBild: Amadeu Antonio Stiftung

Dieses gesellschaftliche Klima kostete wenige Wochen nach der deutschen Wiedervereinigung auch dem Namenspatron der zivilgesellschaftlichen Stiftung das Leben. Der aus Angola stammende Amadeu Antonio wurde im November 1990 von einer mit Baseball-Schlägern bewaffneten Gruppe rechtsextremistischer Jugendlicher in Eberswalde bei Berlin zu Tode geprügelt. Fünf der Täter wurden zu maximal vier Jahren Gefängnis verurteilt, einige kamen mit Bewährungsstrafen davon.

Die Täter wurden streng bestraft

Wesentlich strenger urteilten die Richter nach dem Brandanschlag von Solingen. Die schnell ermittelten Täter, 16 bis 23 Jahre alt, wurden 1995 wegen fünffachen Mordes, 14-fachen Mordversuches und besonders schwerer Brandstiftung zu Freiheitsstrafen von zehn bis 15 Jahren verurteilt. "Solingen wird sich als Höhepunkt der Ausländerfeindlichkeit einbrennen in die Geschichtsbücher Nachkriegsdeutschlands", sagte damals Rechtsanwalt Rainer Brüssow, der die Familie Genç vertrat. 

Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung wäre froh gewesen, wenn die Politik das Asylrecht 1993 unangetastet gelassen hätte. Sie unterstellt den damals Verantwortlichen ein ganz bestimmtes Handlungsmuster: "Wenn die Menschen so rassistisch auf Migranten reagieren, dann muss man dafür sorgen, dass nicht so viele reinkommen." Das sei natürlich ein "ganz schlimmes Signal" gewesen - auch in Richtung Westen. Denn die westdeutsche Gesellschaft hätte sich bis zu diesem Zeitpunkt mit Einwanderung eigentlich arrangiert, meint Kahane. Dieser Zustand sei aber durch die verheerende Diskussion um ein verschärftes Asylrecht aufgebrochen worden.

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