Nach Asyl-Abstimmung: Was ist die "Brandmauer"?
30. Januar 2025
Für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird es vermutlich das Haupt-Thema der letzten Wochen im Wahlkampf für die Bundestagswahl am 23. Februar sein: Hat die Union aus CDU und CSU mit dem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz (CDU) die "Brandmauer" zur in Teilen rechtsextremen "Alternative für Deutschland" (AfD) endgültig eingerissen?
Scholz sagte am Mittwochabend im ARD-Fernsehen, der 29. Januar sei wahrscheinlich ein bedeutender Tag in der Geschichte des Landes gewesen. Merz habe einen Konsens aufgekündigt, den es in der ganzen Nachkriegsgeschichte gegeben habe: "Den Konsens nämlich, dass es keine Zusammenarbeit der demokratischen Parteien mit der extremen Rechten gibt. Das ist heute passiert." Die "Brandmauer" sei gefallen.
Merz bedauert Zustimmung der AfD
Zuvor hatte der Bundestag, das deutsche Parlament, einen Antrag von CDU und CSU über eine verschärfte Asylpolitik mit knapper Mehrheit beschlossen. Mit den Stimmen der Union, der FDP und eben der AfD. Hinzu kamen noch einige fraktionslose Abgeordnete.
Hintergrund: Seit dem Bruch der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP im vergangenen November hat Bundeskanzler Scholz keine Mehrheit mehr im Parlament und regiert zusammen mit der Grünen das Land in einer Minderheitsregierung. Vor der Abstimmung über den Antrag hatte Merz mehrfach betont, es sei ihm egal, wer seinem Antrag zustimme. Nach der Abstimmung fügte er hinzu, dass die AfD ihm zu einer Mehrheit verholfen habe, bedauere er sehr.
Der "Unvereinbarkeitsbeschluss" der CDU
Was genau ist also die viel diskutierte "Brandmauer"? Auf ihrem Parteitag im Jahr 2018 hatte die CDU einen so genannten "Unvereinbarkeitsbeschluss" gefasst. Dort heißt es: "Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab."
Und nach dem Bruch der Koalition im November vergangenen Jahres beteuerte Friedrich Merz, keine Gesetzentwürfe vor der Neuwahl einzubringen, bei dem der AfD die Rolle als Mehrheitsbeschafferin zufallen könnte.
Mehrheit auch für Gesetzesänderung am Freitag?
Der Antrag vom Mittwoch war tatsächlich kein Gesetzesantrag, sondern lediglich ein so genannter "Entschließungsantrag", der die bestehende Regierung zu keinerlei Änderung in der Asylpolitik verpflichtet, sondern lediglich die Mehrheitsmeinung des Parlaments zum Ausdruck bringt.
Aber am Freitag steht eine Gesetzesänderung zur Asylpolitik auf der Tagesordnung, wiederum von CDU und CSU eingebracht. Auch hier wollen die FDP, die AfD und das "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW) zustimmen.
Was ist die "Brandmauer"?
Seit Jahren wird in Deutschland hitzig darüber debattiert, was genau die "Brandmauer" also ist, wann sie fällt und welche Folgen das hat. Tatsächlich gibt es schon lange Kooperationen mit der AfD, in Landtagen, vor allem in Ostdeutschland, auf Kreisebene. Dort, in den Kommunen und Gemeinden, arbeiten eigentlich alle Parteien gelegentlich mit der AfD zusammen, weil Mehrheiten ansonsten kaum oder schwierig zu erzielen sind.
Am häufigsten kooperiere die CDU dort mit der AfD. Zu dem Schluss kommt eine Studie der "Rosa-Luxemburg-Stiftung", die der Linkspartei nahesteht.
Eine Studie sagt: Rund 120 Fälle von Zusammenarbeit mit der AfD
Demnach listet die Studie zwischen 2019 bis 2023 rund 120 Fälle von Kooperationen mit der AfD auf, über Parteigrenzen hinweg. Die Politikwissenschaftlerin Anika Taschke und ihr Fachkollege Steven Hummel betonen darin, meistens seien dabei gemeinsam mit der extremen Rechten Anträge gestellt oder darüber abgestimmt worden.
So habe die CDU im Berliner Bezirk Reinickendorf im Oktober 2019 eine Beschlussempfehlung über ein "Kopftuchverbot für Schülerinnen bis einschließlich 6. Klasse" beantragt. Nach längeren Diskussionen sei der Antrag mit den Stimmen von CDU und AfD im August 2020 dann beschlossen worden.
Die Wahl von Thomas Kemmerich in Thüringen
Besonders folgenreich auch über die Landesgrenzen hinweg war die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten im Februar 2020. Nach hektischen Debatten und erfolglosen Kandidaturen anderer Politiker wurde Kemmerich damals mit den Stimmen seiner FDP, der CDU und eben der AfD gewählt. Er trat aber bereits kurz danach wieder zurück und blieb nur wenige Wochen, bis Anfang März, im Amt. Die damalige Vorsitzende der CDU in ganz Deutschland, Annegret Kramp-Karrenbauer, die vergeblich versucht hatte, die Kooperation mit der AfD zu verhindern, kündigte entnervt ihren Rücktritt an.
Merz: "Flächenbrand" verhindern
Die "Brandmauer" ist also schon länger brüchig, aber im Bundestag, dem wichtigsten deutschen Parlament, ist die Entscheidung vom Mittwoch dennoch eine Zäsur. Merz sagte nach der Abstimmung, er habe im Vorfeld nicht mit der AfD gesprochen: "Zusammenarbeit ist Zusammenarbeit und nicht, eine Abstimmung zu stellen, wo dann andere zustimmen oder nicht zustimmen", so der CDU-Chef in den ARD-Tagesthemen.
Und er fügte hinzu: "Brandmauer ist das falsche Bild. Ich möchte, dass der Brand hinter der Mauer nicht zum Flächenbrand in ganz Deutschland wird." Denn die Mehrheit der Deutschen wünsche sich eine Begrenzung der Migration.
Angela Merkel kritisiert Merz' Vorgehen
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) , die sich seit ihrem Rückzug aus der Politik im Herbst 2021 nur äußerst selten zur aktuellen Politik äußert, veröffentlichte am Donnerstag eine Erklärung. Darin schreibt sie, sie habe die Versicherung von Merz vom November, Mehrheiten nur mit den Parteien der demokratischen Mitte zu suchen, für richtig erachtet.
Aber: "Für falsch halte ich es, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen und dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen."
Zusammenarbeit mit der AfD bei den Deutschen umstritten
Das Thema der "Brandmauer" wird Deutschland in den nächsten Tagen und Wochen bis zur Wahl weiter beschäftigen, so viel steht also fest. Und wie denken die Bürger darüber? Die "Forschungsgruppe Wahlen" veröffentlichte am Donnerstag eine Umfrage im Auftrag des "Zweiten Deutschen Fernsehens", die aber vor der umstrittenen Abstimmung am Mittwoch erfolgte.
Darin unterstützen 47 Prozent der Befragten das Vorgehen von CDU und CSU, eine AfD-Unterstützung in Kauf zu nehmen. 48 Prozent lehnten das ab. 71 Prozent stimmten der Aussage zu, dass von der AfD eine Gefahr für die Demokratie ausgeht.