Brasilianische Indios erbitten ihre Ermordung
26. Oktober 2012"Wir bitten darum, unseren kollektiven Tod anzuordnen und uns alle hier zu begraben. Wir möchten so nicht weiterleben." Diese Passage stammt aus einem offenen Brief, mit der sich die Gemeinde Pyelito Kue an Justiz und Regierung des brasilianischen Staates wendet. In der Gemeinde leben Kaiowá-Indianer, die einem Stamm der Ethnie Guarani angehören, und seit Jahrhunderten große Teile Südamerikas bevölkern.
Die Agrarindustrie erhebt Anspruch auf das traditionelle Territorium der Gemeinde. Der Brief ist die Reaktion auf eine einstweilige Verfügung: Die Gemeinde muss das Land vorerst verlassen - bis das Besitzrecht endgültig geklärt ist. Andernfalls fällt eine Strafe von 500 Real (etwa 200 Euro) pro Tag an. Dafür würde im Zweifelsfall die Nationale Indianerbehörde FUNAI aufkommen. Dennoch schreiben die Kaiowá in ihrem Brief: "Dies ist unsere letzte gemeinsame Entscheidung angesichts des Gerichtsbeschlusses."
Viele Gemeinden betroffen
Auch in anderen Kaiowá-Gemeinden bestehen unklare Besitzverhältnisse. Dabei sollten die Indianer-Territorien seit Jahrzehnten vollständig kartiert und definiert sein. So warten viele Gemeinden seit den 70er-Jahren auf die Festlegung der Grenzverläufe ihres angestammten Territoriums. So auch die Kaiowá-Gemeinde Passo Piraju. Vor zwölf Jahren besetzte sie das Gebiet am Rio Dourados im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, von dem sie Jahrzehnte zuvor vertrieben worden war.
Gewalt nimmt zu
Mit jedem Jahr, meint Cleber Buzatto, würden die Probleme größer: "Die Guarani sind es leid, auf Entscheidungen des Staates zu warten. Deshalb besetzen sie die Ländereien der Großgrundbesitzer, um die Behörden zu einer Entscheidung zu bewegen." Der Generalsekretär des Brasilianischen Indianermissionsrates (CIMI) konstatiert eine erhöhte Gewaltbereitschaft bei den Pistoleiros, dem bewaffneten Personal der Großgrundbesitzer, aber auch unter den indigenen Gruppen.
Die Kaiowá werden besonders häufig zu Opfern von Gewaltanwendung: Der CIMI-Bericht "Gewalt gegen indigene Völker 2011" weist landesweit 503 Morde zwischen 2003 und 2011 aus. Mehr als die Hälfte, nämlich 279, wurden an Kaiowá verübt. Dabei stellen sie nur rund fünf Prozent der indigenen Bevölkerung Brasiliens. Am gefährdetsten sind die Stammes-Oberhäupter - viele wurden deshalb in ein Schutzprogramm des Nationalen Menschenrechtsbüros aufgenommen.
In jüngster Zeit sei auch die Selbstmordrate unter Jugendlichen gestiegen, erklärt Eduardo Backer, Rechtsanwalt der brasilianischen Nichtregierungsorganisation (NGO) für Menschenrechte Justiça Global.
Am Mittwoch (25.10.2012) forderte die Menschenrechts-NGO Survival International, die sich weltweit für die Rechte indigener Völker einsetzt, "die Kartierung aller Guarani-Gebiete und die Erteilung der Erlaubnis, dass sie auf ihrem Land bleiben dürfen, bevor noch mehr Menschen ums Leben kommen".
Historisches Problem
Bis 2010 registrierte die brasilianische Indianer-Behörde FUNAI 43.000 Guarani-Kaiowá in Brasilien. Der Sozialanthropologe der Bundesuniversität Rio de Janeiro, Tonico Benites, gehört selbst der Ethnie an und veröffentlichte am Montag (21.10.2012) auf der brasilianischen Homepage von Justiça Global eine Studie zu den Grenzverläufen der Indianer-Territorien. Ende der 70er-Jahre wurden demnach verschiedene Guarani-Stämme aktiv, um ihr Land zurückzugewinnen.
Die Auseinandersetzungen dauern bis heute in ganz Brasilien an. Die Schuld daran gibt der Menschenrechtsanwalt Eduardo Backer der Agrar-Lobby. Und die ist im landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo sich viele Kaiowá-Stämme angesiedelt haben, besonders einflussreich: "Mit dem vorgeschobenen Argument, der Staat würde sonst an Wirtschaftskraft verlieren, verhindern sie, dass Indianer-Gebiete demarkiert werden", sagt Backer.
Gerücht von Kollektivsuizid
Die Presse spricht mittlerweile von einem möglichen kollektiven Selbstmord der Gemeinde Pyelito Kue, doch der Brasilianischen Indianermissionsrat CIMI ruft in einem Schreiben dazu auf, die Position der Kaiowá richtig darzustellen: "Die Guarani-Kaoiwá sprechen von einem kollektiven Tod und nicht von Selbstmord. Das bedeutet: Sollte das Gericht weiter auf deren Vertreibung bestehen, sind sie dazu bereit, auf ihrem Land zu sterben." Cleber Buzatto, Generalsekretär der CIMI, erklärt: "Der Brief der Guarani-Kaiowá stellt klar, dass sie ihr jahrzehntelang umkämpftes Land nie wieder verlassen werden."