Brasilien auf dem Weg zum "Militärstaat"
9. November 2018Der designierte Präsident Jair Messias Bolsonaro - ein ehemaliger Fallschirmjäger. Sein Vizepräsident Hamilton Mourão - ein pensionierter Vier-Sterne-General. Die Hälfte des Kabinetts könnte künftig aus Militärs bestehen, erwarten Beobachter und nennen das eine "Militärregierung".
Der Verteidigungsminister in spe - ein General a.D. - widerspricht. "Das hat nichts mit einer Militärregierung zu tun. Niemand denkt an eine militärische Intervention, an Autoritarismus", so Augusto Heleno gegenüber des Tageszeitung "O Globo". "Es bringen sich lediglich Leute ein, deren Qualitäten das Land lange übersehen hat. Wenige Leute kennen Brasilien so gut wie wir." Es sei eine Frage der Vernunft, das Wissen der Militärs zu nutzen.
Verteidigung der Diktatur
Mitte der achtziger Jahre kehrte Brasilien nach 21 Jahren Diktatur zurück zur Demokratie. Seitdem legten die Regierungen stets Wert auf ihren zivilen Charakter. Das Militär war dem Verteidigungsministerium unterstellt, das ein Zivilist führte. Mit Bolsonaros Wahlsieg drängt nun das Militär an allen gesellschaftlichen Fronten nach vorn. Bolsonaros Botschaft: Es wird die Dreifachkrise aus wirtschaftlichem Abstieg, ausufernder Gewalt und grassierender Korruption beheben, die eine korrupte Parteiendemokratie mit ihrem Postengeschacher und Parteifilz ausgelöst habe.
Seit seinem Eintritt in die Politik Anfang der neunziger Jahre verteidigt Bolsonaro die Diktatur und ihre Folterer, die für ihn Helden des Kalten Krieges sind. Die Diktaturzeit sei nie aufgearbeitet worden, weshalb sie heute wieder salonfähig sei, resümiert der Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel von der Fundação Getúlio Vargas in São Paulo gegenüber der DW. "Die Streitkräfte werden jetzt als Garant für Ordnung angesehen."
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha im Juni vertrauen 78 Prozent der Brasilianer den Streitkräften. Das Oberste Gericht kommt dagegen nur auf 57 Prozent, der Kongress und die politischen Parteien auf jeweils nur 31 Prozent. "Unterschwellig war in der Gesellschaft stets dieses Verlangen verbreitet, zurück in die als glorreich dargestellte Vergangenheit zu gehen", sagt Coronel Robson Rodrigues da Silva, bis Anfang 2016 Subcomandante der militarisierten Landespolizei Polícia Militar von Rio de Janeiro, gegenüber der DW.
"Ein Teil der Gesellschaft wollte stets diese Rückkehr, und dieses Gefühl hat sich nun mit der Ablehnung der Arbeiterpartei PT und der Anti-Korruptionsbewegung vermischt. Alles zusammen ergab eine Mischung, die uns zu dieser Katharsis geführt hat, die die Wahl Bolsonaros darstellt", so der Polizeioffizier. Für Brasiliens Abstieg machte Bolsonaro die linke PT verantwortlich und ihren Gründer, Luiz Inácio Lula da Silva, der von 2003 bis 2010 Staatsoberhaupt war.
Das Militär reklamiert die Moral
Der Krise sei auch moralische, behauptet Bolsonaro: Es fehle an Respekt gegenüber Institutionen, der Liebe zum Vaterland und am Bekenntnis zu traditionellen Familienwerten. Auch hier fühlen sich die Streitkräfte berufen - die Zahl der öffentlichen Schulen, deren Leiter die Militärs und Polizisten sind, steigt rasant.
Noch repräsentieren sie zwar weniger als ein Prozent aller Bildungseinrichtungen. Doch laut Bolsonaro sollen sie einen gesellschaftlichen Vorbildcharakter haben. An allen Schulen soll wieder der Moral- und Staatsbürgerunterricht eingeführt und die Geschichtsbücher überarbeitet werden, um die Sicht der Militärs zur Machtübernahme 1964 darzustellen. Der Präsident des Obersten Gerichts, Dias Toffoli, hat vor wenigen Wochen bereits erklärt, dass er statt "Putsch" lieber von der "Bewegung von 1964" spreche. Brasiliens Schüler dürften seinem Beispiel bald folgen.
Viele Militärs hielten sich für Retter des Vaterlandes, so Polizeioffizier Rodrigues. "Sie haben die messianische Vision, dass sie die Gesellschaft beschützen und retten werden." Andere wollten an die Stelle der Parteien treten, um wirtschaftliche Interessen zu bedienen, allen voran der Waffenindustrie. "Die glauben, dass jetzt ihr Moment gekommen ist, um den Staatsapparat zu besetzen."
Waffennarren im Kongress
Verstärkten Rückhalt haben diese Gruppierungen nun auch im Kongress. Die Bancada da bala, die "Kugel-Fraktion", ein Abgeordnetenblock mit radikalen Ansichten zum Thema innere Sicherheit, ist nach Schätzungen des politischen Instituts der Gewerkschaften DIAP bei den Wahlen von 35 auf 61 angewachsen. Im Senat debütierte die Bancada mit 15 Senatoren, darunter Bolsonaros Sohn Flávio.
Die Mitglieder wollen die Bewaffnung der Bürger legalisieren sowie den Abschuss von Banditen durch Militär und Polizei straffrei stellen. Die harte Linie sei zwar populär, hätte jedoch fatale Konsequenzen, warnt Robson Rodrigues. Als Leiter der Befriedungseinheiten der Polícia Pacificadora (UPP) in den Favelas von Rio de Janeiro habe er gelernt, dass mehr Gewalt keine Lösung sei. "Dies ist eine dumme Militarisierung, die weder auf die Ausbildung der Polizei setzt, noch in die sozial schwachen Bereichen der Gesellschaft investiert."
Auch die Führung der Streitkräfte sei nicht uneingeschränkt begeistert über ihre zunehmend politische Rolle, berichtet die Tageszeitung "Folha de S. Paulo". Man fürchte, durch ein eventuelles Scheitern der Regierung Bolsonaro das eigene Ansehen zu ramponieren. Angeblich plant Bolsonaro, die zögerliche Führung der Streitkräfte Anfang nächsten Jahres auszutauschen.
Privilegien für Polizei und Streitkräfte
Ein weiterer Stresstest droht im Zuge der anstehenden Rentenreform. Der neue Wirtschaftsminister Paulo Guedes will angesichts eines Rekorddefizits in der Rentenkasse den Militärs ihre Bezüge beschneiden. Das Pro-Kopf-Defizit ist sechzehnmal größer als das von normalversicherten Angestellten. Bolsonaro ruderte am Montag erst einmal zurück - für Polizisten und Militärs werde man Ausnahmen machen.
Die Unruhe wächst auch in der Bevölkerung. Nachdem Datafolha im Sommer den Militärs das Rekordvertrauen von 78 Prozent attestierte, zeigen jüngste Untersuchungen aus dem Oktober mittlerweile, dass die Hälfte der Bevölkerung Angst vor einer neuen Militärdiktatur hat. Und 31 Prozent glauben sogar, dass das Risiko einer Machtübernahme durch die Streitkräfte derzeit besonders hoch sei.