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Politik

Das Land der Zukunft will 50 Jahre zurück

Thomas Milz
28. Oktober 2018

Mit der möglichen Wahl des rechtsextremen Kandidaten Jair Messias Bolsonaro an diesem Wahlsonntag flirtet Brasilien mit dem Abschied aus der westlichen Wertegemeinschaft. Alles nur Wahlkampfgetöse?

Anhänger des brasilianischen rechtsaußen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro
Bild: Getty Images/AFP/C. De Souza

Die Stichwahl scheint schon entschieden, bevor alle Stimmen abgegeben sind. Jair Messias Bolsonaro liegt nach einer Vorwahlumfrage von Dienstag mit 57 Prozent weit vor Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei PT, der auf 43 Prozent kommt. Haddad war Mitte September für den wegen Korruption in Haft sitzenden Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) eingesprungen, nachdem die Justiz dessen Kandidatur untersagt hatte.

Wohin die Reise unter Bolsonaro gehen wird, ist völlig unklar. Glaubt man seinen Ankündigungen, will er ein Brasilien "wie vor 40 oder 50 Jahren" - also zurück in die dunklen Zeiten der Diktatur (1964-85), die der Ex-Militär seit jeher leidenschaftlich verteidigt, inklusive der damals Schrecken verbreitenden Folterknechte. Den dazu passenden Diskurs hat er schon.

Vor einer Woche versprach Bolsonaro, der seit einem Messerattentat Anfang September nicht mehr öffentlich auftritt, per Videobotschaft "Säuberungen, wie sie dieses Land noch nie gesehen hat". Wer sich nicht dem Mehrheitswillen unterordne, könne zwischen Exil und Gefängnis wählen. Die Landlosenbewegung MST und die Obdachlosenbewegung MTST werde er wie Terroristen behandeln, und Haddad werde gemeinsam mit Lula im Gefängnis verfaulen.

"Nie wieder Lula" - Anhänger von Jair Bolsonaro in Sao PauloBild: Reuters/N. Doce

"Was er sagt, kann man nahtlos gleichsetzen mit dem Aufstieg Hitlers, und es wäre keine Überraschung, wenn die Demokratie in den nächsten Monaten einen Schwenk Richtung Autoritarismus machen würde", meint der Journalist und DW-Kolumnist Alexander Busch. Noch könnte es sich jedoch um reine Wahlkampfphrasen handeln: "Bisher hat das politische System stets mäßigend auf die Präsidenten gewirkt, hat den linken Lula zu einer liberalen Wirtschaftspolitik gedrängt und den konservativen Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) zu einer sozialeren Politik." 

Der Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel von der Fundacão Getúlio Vargas in São Paulo ist pessimistischer. Im besten Fall passiere mit Bolsonaro das gleiche wie mit seinem Idol Donald Trump, dessen radikalen Ideen von den politischen Institutionen abgefedert werden, "wobei die Strukturen in Brasilien nicht so stark sind wie in den USA". Dafür spricht die hilflose Reaktion der Justiz auf Vorwürfe, Bolsonaro finanziere über schwarze Kassen die Verbreitung von Fake News. Da das Militär hinter Bolsonaro steht, muss dieser von der eingeschüchterten Justiz nichts befürchten.

"Institutionelle Gewalt": Schon jetzt sorgt das brasilianische Militär für Ruhe und Ordnung in Rio de JaneiroBild: picture alliance/dpa/Zuma Wire/L. Belford

So erwartet Stuenkel eine Zunahme der institutionellen Gewalt, eine härtere innere Sicherheitspolitik mit weniger Rechten für Minderheiten und mehr Menschenrechtsverletzungen in den Favelas und im Amazonasgebiet. "Von der Innenpolitik her ist Bolsonaro wohl am ehesten mit dem philippinischen Präsident Rodrigo Duterte vergleichbar. Auch Bolsonaro will mit harter Hand gegen Minderheiten und das Verbrechen vorzugehen, ohne Rücksicht auf die Menschenrechte. Und das hat Rückhalt in der Bevölkerung."

Ein Land zwischen Panik und Paranoia

Unter Haddads Anhängern herrscht derweil eine Mischung aus Angst und Trotz. Man werde Widerstand leisten, erklärten PT-Wähler am Dienstag auf einer Veranstaltung in Rio - und gleichzeitig die Reisepässe bereitlegen. Ganz allgemein schwankt Brasilien zwischen Panik und Paranoia. Dazu haben auch millionenfach verbreitete Fake News beigetragen, die die Gesellschaft radikal polarisieren und damit eine gesunde Debatte über notwenige Reformen unmöglich machen. Angeheizt von evangelikalen Predigern, die vor einem von LGBT-Aktivisten angeführten kommunistischen Putsch warnen, hat die öffentliche Debatte längst surreale und groteske Formen angenommen.

Derzeit überlagert die Angst jegliche Vernunft. Da stört es viele Brasilianer auch nicht, dass Bolsonaro kein konsistentes Regierungsprogramm vorgelegt hat. "Als haushoher Favorit verlangt Bolsonaro von der Bevölkerung einen Blankoscheck, ohne konkrete Pläne vorzulegen", schreibt der Journalist Paulo Celso Pereira in der Zeitung "O Globo". "So weiß man (...) immer noch nicht, was er in zentralen Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Rente, Privatisierungen oder der Steuerpolitik vorhat."

Blankoscheck für den Kandidaten: Veranstaltung der PSLBild: picture-alliance/dpa/F. Frazao

Die Wirtschaft sehe trotzdem mit verhaltenem Optimismus auf Bolsonaro, so Alexander Busch. "Zwar sind seine Äußerungen zur Verschlankung des Staates und zur Privatisierung von Staatsbetrieben widersprüchlich. Aber sollte es seinem liberalen Wirtschaftsguru Paulo Guedes gelingen, in den ersten Monaten Reformen durchzudrücken, könnte er eine positive Spirale in Gang zu setzen." Mögliche Menschenrechtsverletzungen hin oder her - "die Wirtschaft denkt halt stets pragmatisch". Der Beleg: Seitdem er in Umfragen führt, haben die Börse und die Währung Real um 15 Prozent zugelegt.

Trumps gelehriger Schüler

Der Politologe Stuenkel sieht hingegen auch Brasiliens Wirtschaft gefährdet. Wie Trump lehne Bolsonaro multilaterale Gremien ab, auch ein Abschied aus dem Pariser Klimaabkommen und aus Menschenrechtskonventionen sei denkbar. Darunter werden besonders die Beziehungen zu Europa leiden. "Sich mit Bolsonaro zu treffen, dürfte daheim hohe politische Kosten für die meisten europäischen Staatschefs haben." Die Beziehungen zu China, Brasiliens wichtigstem Handelspartner, hat Bolsonaro durch einen Taiwan-Besuch und seinen Diskurs einer kommunistischen Weltverschwörung schon strapaziert. "Reagiert China, wäre das eine Katastrophe für Brasiliens Wirtschaft." 

Wahl in Brasilien

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Auch der Ökonom Marcelo Neri von der Fundacão Getúlio Vargas in Rio de Janeiro zweifelt an der Durchführbarkeit von Wirtschaftsreformen. Zwar wird Bolsonaro - anders als die letzten beiden Präsidenten Dilma Rousseff (2011-2016) und Michel Temer (seit 2016) - eine robuste Mehrheit auf seiner Seite wissen. Aber seine parlamentarische Basis beruht zum großen Teil auf nationalistisch gestimmten Lobbygruppen wie Polizisten und Militärs, mit denen weder nötige Kürzungen im Rentensystem noch die Privatisierung von Staatsbetrieben zu machen ist. "Dadurch verliert der Reformgedanke an Kraft."

Das gesellschaftliche Klima sei derzeit zu vergiftet für einen sauberen Neustart. "Es ist, als ob alles mit Benzin überschüttet ist. Da sollte man besser nicht mit Streichhölzern spielen", so Neri. Symbolisch für den hochexplosiven Moment sei die Situation der beiden wichtigsten Persönlichkeiten Brasiliens. "Ex-Präsident Lula sitzt in Haft, und Bolsonaro wurde gerade Opfer eines Attentats. Dabei bräuchte Brasilien dringend einen Versöhner wie Nelson Mandela."

Bolsonaro und die Minderheiten

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