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Brasilien: Die Angst vor dem Öl aus Nazi-Schiffen

Alice de Souza | Astrid Prange de Oliveira
26. September 2024

Mehr als 500 Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg lagern vor Brasiliens Küste. Darin befinden sich teils wertvolle Metalle. Meeresforscher warnen, dass bei der Jagd auf die Rohstoffe auch tonnenweise Öl entweichen kann.

Projekt der Webseite Sixtant | Zweiter Weltkrieg 1941 | Archivaufnahme des Blockadebrechers "Esso Hamburg", die sich 1941 im Südatlantik selbst versenkte
Der Blockadebrecher "Esso Hamburg" transportierte 7000 Tonnen Heizöl und 1200 Tonnen Dieselöl. Das Nazi-Schiff versenkte sich am 4. Juni 1941 selbst, um einer Gefangennahme durch die Alliierten zu entgehen (Archivbild)Bild: www.aukevisser.nl via Sixtant-Website

Brasilianische Meeresbiologen haben ein Rätsel gelöst, das Forschende aus aller Welt lange beschäftigt hat: Woher kommen die schweren Kautschukklötze, die seit mehreren Jahren immer wieder an Stränden im Nordosten Brasiliens angeschwemmt werden?

Nach einer Untersuchung des Instituts für Meeresforschung (Labomar) an der Bundesuniversität des brasilianischen Bundesstaates Ceará (UFC)und der Autonomen Universität von Barcelona stammen die bis zu 200 Kilogramm schweren Kautschukballen unter anderem aus dem deutschen Schiff MS "Weserland". Es sank am 3. Januar 1944 und liegt in einer Tiefe von mehr als 5000 Metern im Atlantikgraben.

Rohstoffe für den Krieg

Kautschuk war während des Ersten und Zweiten Weltkriegs ein wichtiges Material für die Herstellung von Autos, Flugzeugen und Uniformen. Während des Zweiten Weltkrieges reisten die Deutschen nach Südostasien, unter anderem nach Singapur, Malaysia und in das ehemalige Indochina - heute Vietnam, Laos und Kambodscha -, um dort Latexballen zu beschaffen.

Gigantisch und rätselhaft: Ein aus einem Schiffswrack angeschwemmter Kautschukklotz taucht an einem brasilianischen Strand aufBild: Labomar UFC

Sie verluden auch Metalle wie Kobalt, Zinn sowie das Mischkristall Wolframit. Nach Berechnungen der brasilianischen Meeresforschung könnte die Ladung der MS "Weserland" heute zwischen 17 und 68 Millionen US-Dollar wert sein, wenn man den Zinnpreis vom Mai 2021 zugrunde legt. "Dieses Schiff hatte Wolframit geladen, eine Ware, die an der Börse vor allem während der Pandemie einen Boom erlebt hat, weil sie zur Herstellung von Mobiltelefonen, Tablets und Computern verwendet wird", erklärt Luis Ernesto Arruda Bezerra vom Institut für Meeresforschung an der UFC.

"Schiffswracks sind tickende Zeitbomben"

In einer Studie, die demnächst von der wissenschaftlichen Zeitschrift "Ocean and Coastal Reseach" (OCR) veröffentlicht wird und der DW vorliegt, wird nachgewiesen, dass dass der Austritt der Kautschukballen aus dem Wrack zeitlich mit dem Preisanstieg für die Metallladung zusammenhängt. "Dies untermauert die Hypothese der unerlaubten Bergung aus der Tiefsee in internationalen Gewässern", heißt es im Vorwort der Untersuchung. Die Zeitschrift wird vom Institut für Ozeanographie der Universität São Paulo herausgegeben. 

Das Kriegsschiff MS "Weserland" hatte nicht nur Kautschuk, sondern auch das Mischkristall Wolframit geladen. Das Schiff wurde 1944 im Südatlantik versenkt Bild: Sixtant-Website

Weltweit gibt es schätzungsweise drei Millionen gesunkene und verlassene Schiffe in den Ozeanen. Davon sind nach Angaben der Internationalen Union für die Erhaltung der Natur und der natürlichen Ressourcen (IUCN) 8500 "potenziell umweltschädliche Wracks".

Alliierte versenken massenweise U-Boote

Mithilfe mathematischer Simulationen und der Analyse der Strömungen zwischen Brasilien und Afrika haben Forschende der Bundesuniversitäten von Alagoas (Ufal) und Ceará (UFC) festgestellt, dass sich der Kautschuk in zwei ehemaligen deutschen Nazi-Schiffen befand, die während des Zweiten Weltkriegs im Südatlantik gesunken waren.

Rekonstruktion: Die Webseite "Sixtant" listet 548 versenkte Schiffswracks im Südatlantik zwischen Brasilien und Afrika aus dem Zweiten Weltkrieg aufBild: Sixtant-Website

Die Sixtant-Websitespeichert Informationen über im Südatlantik versenkte Schiffe. Die UFC-Forschenden haben sie bei der Suche nach der Herkunft der Kautschukballen genutzt. Die Website zeigt 25 deutsche U-Boote und ein italienisches U-Boot, die während des Zweiten Weltkrieges in einer gemeinsamen Aktion der US-amerikanischen, brasilianischen und britischen Marine versenkt wurden. 

Die Website hat insgesamt 548 Schiffe aufgelistet, die zwischen 1939 und 1945 im Südatlantik versenkt wurden, 56 davon waren deutscher Herkunft.

Es gab auch Schiffe, die mehr als 7000 Tonnen Heizöl und 1200 Tonnen Dieselöl transportierten, wie die Esso Hamburg, die im Juni 1941 versenkt wurde. Der Sixtant-Webseite zufolge transportierten mindestens vier Schiffe Heizöl und fünf Schiffe Kautschuk.

Die ersten Kautschukballen, die 2018 und 2019 in Brasilien angeschwemmt wurden, stammten von der MS "Rio Grande". Das deutsche Schiff wurde 1944 von den Vereinigten Staaten versenkt, als es versuchte, die von den USA verhängte Seeblockade zu durchbrechen.

Kaum Kontrolle in internationalen Gewässern

Die UFC-Forschenden vermuten, dass sich die Kautschukklötze aus zwei Gründen von den Schiffen lösen: Einmal aufgrund des natürlichen Verfalls der Schiffswracks. Und dann wegen der anhaltenden Jagd nach Rohstoffen durch Piraten und illegale Unternehmen.

Großeinsatz: Nach der Ölpest 2019 in Brasilien helfen Freiwillige bei den SäuberungsarbeitenBild: ANTONELLO VENERI/AFP via Getty Images

Sie weisen darauf hin, dass die Überwachung von Schiffswracks in internationalen Gewässern vor der brasilianischen Küste nicht ausreicht, um potenzielle Umweltverschmutzer zu identifizieren. Bisher wird dieses Monitoring von den Vereinigten Staaten geleistet.

Die UFC will versuchen, die Schiffswracks zu kartieren, um die Risiken, die sie für die brasilianische Küste darstellen, zu klassifizieren. "Aber es ist keine einfache Untersuchung, denn die meisten dieser Schiffe liegen in mehr als 4000 Metern Tiefe", sagt Marcelo Soares vom Institut für Meeresforschung an der UFC.

"Nebeneffekt" Umweltkatastrophe

"Das Unternehmen zerlegt ein Schiff, um das Metall herauszuholen, und als Nebeneffekt können Kautschuk und Öl austreten, die an die Küste gelangen, weil die Strömungen sie hierher bringen. Die Frage ist also nicht, ob das Öl ausläuft, sondern wann es ausläuft", erklärt Meeresforscher Arruda Bezerra.

Zwischen 2020 und Juli 2024 verzeichnete die brasilianische Marine durchschnittlich 14 Ölverschmutzungen verschiedenen Ursprungs vor der brasilianischen Küste pro Monat, was insgesamt 758 Vorfällen entspricht. In diesem Jahr wurden bereits 87 Fälle mit 153.700 Litern ausgelaufenem Öl festgestellt. 

Er befürchtet, dass sich beim Austreten von Öl aus den Wracks eine ähnliche Umwelttragödie wie 2019 ereignen könnte. Damals wurde Brasilien zum Schauplatz der größten Ölpest, die jemals in tropischen Gewässern verzeichnet wurde. In insgesamt elf Bundesstaaten wurden rund 5000 Tonnen Öl angeschwemmt. Die Ursache ist unbekannt.

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