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Politik

Brasilien: Die Rosskur geht weiter

Jan D. Walter | Jean-Philip Struck
18. Mai 2017

Weniger als ein Jahr nach dem Impeachment gegen Dilma Rousseff steht auch die Präsidentschaft ihres Nachfolgers auf der Kippe. Michel Temer soll Schweigegeld vermittelt haben. Doch der Skandal hat auch etwas Gutes.

Brasilien - Korruptionsskandal - Michel Temer
Bild: Getty Images/AFP/E. Sa

Wer glaubte, dass Brasiliens Politik mit der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff zur Ruhe kommen würde, sieht sich endgültig getäuscht. Bereits einen Monat, nachdem der damalige Vize-Präsident Michel Temer - zunächst kommissarisch - im Mai 2016 das höchste Staatsamt übernommen hatte, waren zwei Minister seines neu berufenen Kabinetts wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetreten. Zum Verhängnis waren ihnen Tonaufnahmen geworden, in denen sie mit kompromittierenden Aussagen zu hören waren.

Schweigegeld mit präsidialem Segen

Und genau dies scheint nun auch Temer selbst zu widerfahren: Die Tageszeitung "O Globo" berichtete über extrem belastendes Tonmaterial, das der brasilianischen Justiz vorliege. Brasiliens Oberstes Gericht hat der Aufnahme von Ermittlungen gegen den Präsidenten zugestimmt.

Auf dem Mitschnitt, so hieß es, sei zu hören, wie Temer den Unternehmern Joesley und Wesley Batista vom weltgrößten Fleischproduzenten JBS nahelegt, Schweigegeld-Zahlungen aufrechtzuerhalten, die sie nach eigenen Aussagen an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha leisteten. Zudem steht Temer im Verdacht, einen Abgeordneten seiner Partei (PMDB) mit der Geldübergabe beauftragt zu haben. Joesley Batista selbst soll das Gespräch mitgeschnitten und die Aufnahme der Justiz übergeben haben - vermutlich in der Hoffnung, als Kronzeuge eine mildere Strafe zu erhalten.

Wegen Korruption im Gefängnis: Ex-Parlamentschef Eduardo Cunha. Worüber soll er schweigen? Bild: Agência Brasil/F. Rodrigues Pozzebom

Wozu genau Cunha schweigen soll, ist bisher nicht bekannt. Aber Cunha gehörte wie Temer jahrelang dem engsten Führungszirkel der Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) an. Er war treibende Kraft hinter dem Impeachment gegen Dilma Rousseff, aus dem schließlich - erwartungs- und verfassungsgemäß - Temer als neuer Präsident hervorging. Seit Oktober 2016 sitzt Cunha selbst wegen Korruption im Gefängnis. Er könnte also alles Mögliche wissen, was Temer weder in der Zeitung, noch in einer Anklageschrift lesen möchte.

Temer lehnt Rücktritt ab

"Das ist der Todesstoß", sagt Politikanalyst Gaspard Estrada vom Pariser Forschungsinstitut Sciences Po: "Die Logik gebietet es, dass Temer nicht weitermachen kann." Dies gelte umso mehr, als Temer praktisch keinen Rückhalt in der Bevölkerung hat: Nur fünf Prozent der Befragten hielten ihn laut einer Umfrage Ende April für einen guten Präsidenten.

Doch Temer klammert sich weiter an sein Amt. "Ich werde nicht zurücktreten", sagte er nach stundenlangen internen Beratungen in einer kämpferischen Ansprache in Brasilia. "Ich habe das Schweigen von niemandem erkauft", beteuerte er und forderte eine rasche
Untersuchung. 

Neben dem Machterhalt hat Temer einen weiteren guten Grund, Präsident bleiben zu wollen: Er würde seine Immunität verlieren und könnte dann schon bald im Gefängnis landen, erläutert Carlos Pereira, Professor für Politische Ökonomie der Getúlio Vargas Stiftung (FGV). "Aber es gibt ja auch noch die Möglichkeit, dass das Oberste Gericht ihm diese Entscheidung abnimmt", sagt Pereira. Ein realistisches Szenario mit Temer in der Regierung sieht der Politikwissenschaftler nicht mehr

Unbeliebter Temer: Ende April gingen 40 Millionen Brasilianer zum ersten Generalstreik seit 21 Jahren auf die StraßeBild: picture alliance/abaca/D. Oliveira

Gaspard Estrada teilt die Auffassung vieler Brasilianer, dass es Zeit für Neuwahlen ist. Allerdings hat unter den möglichen Nachfolgern derzeit wohl Ex-Präsident Lula Da Silva die besten Chancen. Auch gegen ihn läuft ein Korruptionsverfahren. "Insofern muss man abwarten, wie sich die politische Elite positioniert", sagt Estrada.

Finanzmärkte reagieren nervös

Dennoch: Was gegen Temer vorliegt, habe eine neue Dimension, sagt der Politikanalyst: "Das wiegt wesentlich schwerer als alles, was gegen die Regierung Dilma Rousseff je aufgetaucht ist." Rousseff war über eine geschönte Haushaltsbilanz gestolpert, die vielen als fadenscheiniger Grund für die herbeigesehnte Amtsenthebung gilt. Der Verdacht gegen Lula ist zwar stark, aber Beweise fehlen nach wie vor. "Dies hier ist viel expliziter", sagt Estrada: "Ein amtierender Präsident stiftet zum Justizbetrug an. Und die Beweise scheinen sehr konkret zu sein."

Auch an den Finanzmärkten scheint man den Ernst der Situation zu erkennen - und zu fürchten: Die Landeswährung Real verlor am Donnerstag sieben Prozent gegenüber dem Dollar, der Leitindex Ibovespa fiel um mehr als zehn Prozent, Zeitweise wurde der Handel sogar ausgesetzt.

Noch am Mittwochabend zeigten die Brasilianer, was sie wollen: "Temer weg, Reformen weg, Neuwahlen"Bild: imago/Agencia EFE

Dabei ist es nicht nur die Verunsicherung, die nun wieder Einzug in Brasília gehalten hat: Temer galt auch als Hoffnung für die Wirtschaft, deren schlechte Entwicklung wohl der politische Hauptgrund für Rousseffs Absetzung war. Tatsächlich fiel die Inflationsrate in den 12 Monaten, die Temer nun Präsident ist, um mehr als 50 Prozent, doch die Arbeitslosenquote stieg auf ein Langzeithoch von 14 Prozent.

"Korrupte Eliten wissen nicht mehr, was sie tun sollen"

Carlos Pereira kann dem Ganzen aber dennoch etwas Positives abgewinnen: "Der Fall zeigt, dass die Korrupten nicht mehr die Kontrollmechanismen beherrschen." Temer habe vermutlich geglaubt, nach dem Abgang Rousseffs, die sich für die Aufklärung etwa des Petrobras-Skandals eingesetzt hatte, würden Ermittlungen nach und nach eingestellt. Doch schon Lula und Dilma seien bei dem Versuch gescheitert, die Justiz zu beeinflussen, erinnert Pereira.

Es setzt sich also der Eindruck durch, dass sich Brasiliens Institutionen immer weniger gefallen lassen: "Die Staatsanwaltschaft, die freie Presse und die Polizei sind gestärkt", sagt Pereira, "und die korrupten Elite wissen nicht mehr, was sie tun sollen."

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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