1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Erst schießen, dann fragen?

Astrid Prange18. Juni 2013

Während des Confederation Cups protestieren in Brasilien Hunderttausende gegen teure Stadien, Korruption und Kungelei. Die Polizei reagiert mit großer Brutalität. Die Ursachen dafür liegen in der Struktur der Polizei.

Hinter einem brasilianischen Polizisten Rauchschwaden der Proteste (Foto: CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images)
Bild: CHRISTOPHE SIMON/AFP/Getty Images

Die Wut der Menschen richtete sich am Montagabend (17.06.2013) in den brasilianischen Großstädten Sao Paulo, Rio, Belo Horizonte, Brasilia und Porto Alegre vor allem gegen die Militärpolizei. Die war bei den ersten Demonstrationen Ende vergangener Woche mit Gummigeschossen, Tränengas und Pfefferspray gegen die Protestierenden vorgegangen.

"Die Polizei hätte niemals Gummigeschosse und Tränengas gegen sensible Körperteile wie Augen und Gesicht einsetzen dürfen", erklärten danach Politiker wie Adriano Diogo, Abgeordneter der Arbeiterpartei PT im Landtag des Bundesstaats Sao Paulo. Und der parlamentarische Protest zeigte Wirkung: Diesmal verzichtete die Polizei auf die Präsenz stark bewaffneter Sonderkommandos. Dennoch wirft das Vorgehen der Ordnungshüter ein Schlaglicht auf die umstrittene Rolle der Militärpolizei in der brasilianischen Gesellschaft.

Brasiliens Polizei geht hart gegen die Demonstranten vorBild: Reuters

Der Abgeordnete macht sich keine Illusionen: "Eine Debatte über demokratische Reformen der Polizei gibt es in Brasilien nicht, davon sind wir weit entfernt", erklärt Diogo, der auch Vorsitzender der Wahrheitskommission in Sao Paulo ist, die sich um die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen während der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985) bemüht. Stattdessen, so Diogo, gebe es die Sehnsucht, hart gegen Kriminelle durchzugreifen, indem man das Strafalter herabsetze und Drogenabhängige interniere. Damit nicht genug: "Wenn die Leute in den Vororten von Todesschwadronen oder Milizen umgebracht werden, heißt das doch, dass die brasilianische Gesetzgebung, die keine Todesstrafe vorsieht, missachtet wird", kritisiert der Parlamentarier im DW-Interview.

Hart durchgreifen, statt reformieren

In Brasilien gibt es fünf unterschiedliche Polizeieinheiten, die für die Wahrung der öffentlichen Ordnung zuständig sind: Bundespolizei, Polizei für Bundesstraßen und Bundesbahn, Zivilpolizei und Militärpolizei, zu der auch die Feuerwehr gehört. Die Militärpolizei wurde 1967, drei Jahre nach dem Militärputsch, den brasilianischen Streitkräften zugeordnet. Ihre Aufgabe bestand damals unter anderem darin, politische Widerstandskämpfer zu verfolgen. Heute sind Militärpolizisten für Verkehrskontrollen und Verbrechensbekämpfung zuständig. Jeder der 27 brasilianischen Bundesstaaten verfügt über eine eigene Militärpolizei, die dem jeweiligen Gouverneur untersteht.

Massaker an Häftlingen und Landlosen

Die brasilianische Militärpolizei ist für ihre Brutalität bekannt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kamen bei Gefechten mit der Polizei im Bundesstaat Rio de Janeiro im Jahr 2011 in den ersten sechs Monaten 372 Menschen ums Leben. Im Bundesstaat Sao Paulo waren es 252 Menschen. 2012 empfahl sogar der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen der brasilianischen Regierung, die Militärpolizei aufzulösen und die Todesschwadronen im Land stärker zu bekämpfen.

Bereits in den 1990er Jahren schockierte die Brutalität der brasilianischen Militärpolizei die Weltöffentlichkeit: Am 2. Oktober 1992 Jahres stürmten Ordnungshüter nach einer Meuterei das Gefängnis von Carandiru in Sao Paulo und exekutierten 111 Gefangene. Vier Jahre Später, im April 1996, erschossen Militärpolizisten bei einer Demonstration von Landlosen im brasilianischen Amazonasgebiet 25 Menschen.

Politisches Versagen

"Über 20 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur hat sich die brasilianische Gesellschaft sehr stark verändert, aber bei der Militärpolizei gab es überhaupt keine strukturellen Veränderungen", kritisiert Pedro Rodolfo Bode, Professor für Soziologie am Zentrum für öffentliche Sicherheit und Menschenrechte der Bundesuniversität von Paraná. Es sei richtig, so Rodolfo, der auch Mitglied in der Kommission für Sicherheitsverwahrung bei der brasilianischen Rechtsanwaltsvereinigung OAB ist, dass die sozialen Bewegungen und große Teile der brasilianischen Gesellschaft sich gegen diese Gewalt wehrten. Rodolfo: "Es muss in die Demilitarisierung investiert werden. Zivil- und Militärpolizei müssen zusammengelegt werden, statt getrennt zu arbeiten und untereinander zu rivalisieren."

Von einer Debatte über Polizeireformen ist das Land dennoch weit entferntBild: Marcello Casal Jr/ABr

Bereits in den 90er Jahren versuchte der brasilianische Parlamentarier und Menschenrechtsaktivist Hélio Bicudo die unterschiedlichen Polizeieinheiten zusammenzuführen. Doch auch sein Vorschlag, zumindest die Militärgerichtsbarkeit abzuschaffen und Militärpolizisten bei Rechtsüberschreitungen und Verbrechen der zivilen Gerichtsbarkeit zu unterstellen, fand bisher im brasilianischen Kongress keine Mehrheit.

"Das sind die Widersprüche Brasiliens", meint der Abgeordnete Adriano Diogo. "Die Bevölkerung wählt eine linke progressive Regierung, doch der politische Einfluss der Rechten ist immer noch sehr stark." Die PT habe es während der langen Regierungszeit seit 2003 nicht geschafft, eine Reform der Polizei vorzunehmen, räumt er ein.

Auch Sicherheitsexperte Antonio Flavio Testa macht die Politik für die Gewalttätigkeit der Polizei mitverantwortlich. "Das Massaker von Carandiru ereignete sich unter zivilem Kommando", stellt der Professor für Politik von der Universität Brasilia klar. In der Praxis bestimme die öffentliche Sicherheitspolitik das Verhalten der Militärpolizei, und die müsse mit demokratischen Grundsätzen vereinbar sein. Testa: "Gewaltexzesse sind inakzeptabel, aber sie existieren."

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen