Brasilien zeigt USA kalte Schulte
22. Oktober 2013Der Präsident war bester Stimmung. Zwei Tage hielt sich Ronald Reagan bereits in Brasilien auf, hatte einen Abstecher nach São Paulo unternommen und war nun, Anfang Dezember 1982, in der Hauptstadt Brasília eingetroffen. Präsident João Figueiredo, nach über 20 Jahren Militärherrschaft der letzte General an der brasilianischen Staatsspitze, ließ zu Ehren seines Gastes ein Staatsbankett ausrichten. Am feierlich gedeckten Tisch erwiderte der US-Präsident die Ehre durch einen freundlich gemeinten Toast: "Es lebe das bolivianische Volk".
Ein peinlicher Versprecher, den viele Brasilianer aber als bezeichnend für das Verhältnis ihres Landes zu den USA empfanden: In Washington, so ihr Eindruck, nahm man Brasilien nicht ernst, betrachtete es als ein südamerikanisches Land unter vielen, gesichtslos und beliebig austauschbar.
Nicht erst seit Präsident Reagans Patzer hält sich der Eindruck, dass Brasilien auf der Prioritätenliste der Vereinigten Staaten eher im unteren Bereich angesiedelt ist. Auch unter seinen Nachfolgern blieb Lateinamerika außenpolitisch im Abseits. So konzentrierte sich der Republikaner George W. Bush unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 auf den "Krieg gegen den Terrorismus" und vernachlässigte darüber die Beziehungen zu den südlichen Nachbarländern.
Auf Partnersuche im Süden
Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nutzte diese außenpolitische Auszeit und baute während seiner Amtszeit (2003 bis 2011) ein neues Netz von Allianzen auf. Statt der traditionellen Nord-Süd-Beziehungen stärkte er die politischen und wirtschaftlichen Bande zu lateinamerikanischen Nachbarländern, afrikanischen Staaten sowie zu Indien und China. Bereits 2009 löste China die USA als größten Handelspartner Brasiliens ab.
Die Regierung Obama schien das verlorene Terrain in Lateinamerika zurückerobern zu wollen. Doch aus der Charme-Offensive, die mit einem Besuch von US-Vize Joe Biden im Mai dieses Jahres in Brasilien begann, wurde nichts. Nach dem Lauschangriff der National Security Agency (NSA) sagte Präsidentin Rousseff vor einem Monat ihren für den 23. Oktober geplanten Staatsbesuch in Washington ab. Dass ihre E-Mails und Telefonate ausspioniert worden waren, begriff sie als persönlichen Affront.
Absage bringt Sympathien
Politikwissenschaftler Carlos Gustavo Poggio Teixeiro von der Katholischen Universität São Paulo (PUC - SP) vermutet, dass Rousseff die Entscheidung nicht allzu schwer gefallen ist. "Um seine Rolle als südamerikanische Regionalmacht zu verteidigen, musste Brasilien immer eine gewisse Distanz zu den USA halten, eine Option, die für Mexiko nicht in Frage kommt", erklärt er. Schließlich wurde Lateinamerika in der US-amerikanischen Außenpolitik mehr als ein Jahrhundert lang als eine Art "Hinterhof" betrachtet.
Die jüngsten Umfragewerte geben ihm recht. Nach Angaben des brasilianischen Meinungsforschungsinstituts Ibope stieg die Zustimmung für Präsidentin Dilma Rousseff in der Bevölkerung im Zeitraum von Juli bis September von 31 Prozent auf 37 Prozent an. Vor den Massenprotesten im Juni lag die Zustimmung allerdings noch bei 55 Prozent.
Zu Rousseffs Entscheidung mag beigetragen haben, dass Präsident Obama seine Zustimmung zu zwei politischen Herzensanliegen Brasiliens ohnehin bereits verweigert hatte: erstens die Aufhebung der in den USA für Brasilianer geltenden Visapflicht. Und zweitens der Wunsch nach einem ständigen Sitz Brasiliens im UN-Sicherheitsrat. Letzterer hätte den regionalen und internationalen Führungsanspruch des Landes einen großen Schritt weiter gebracht.
Auf Distanz zum großen Bruder
Die brasilianische Außenpolitik steht damit vor einem Dilemma: Einerseits ist sie bei ihren globalen Zielen auf die USA angewiesen. Andererseits muss Brasilien als südamerikanische Regionalmacht auf Distanz zum großen Bruder im Norden gehen. "Für Brasilien ist es sehr wichtig, dass im Sinne seiner regional und international gewünschten Autonomie der Einfluss der USA in der Region niedrig bleibt", beschreibt Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die brasilianische Perspektive.
Das weiß man natürlich auch in den USA. Angesichts der scharfen Winde, die Washington aus Staaten wie Kuba, Venezuela, Bolivien und Ecuador entgegenwehen, ist man auf verlässliche Partner im Südamerika dringend angewiesen. Und unter diesen ist Brasilien der wichtigste. "Die USA wissen, dass Brasilien ein relevanter Akteur in der Region ist, und daher ist es ihnen wichtig, sich mit diesem gut zu verstehen", erklärt Claudia Zilla.
Ebenso weiß man in Washington, dass sich Brasilien mehr und mehr als Sprachrohr der südlichen Staatenwelt versteht und mit ihr eine Interessensgemeinschaft bildet, die weit über den Rahmen der BRICS-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) hinausgeht.
Angesichts des außenpolitischen Gewichts, das Brasilien in die Wagschale wirft, dürfte Washington wenig Interesse daran haben, dass sich die Beziehungen zu Brasilien verschlechtern. "Ich glaube nicht, dass der NSA-Skandal das Verhältnis zwischen den beiden Ländern langfristig negativ beeinflusst", erklärt Poggio Teixeiro. Umgekehrt sind die USA für die außenpolitischen Ambitionen Brasiliens ein unumgehbarer Ansprechpartner. Darum dürfte auch Dilma Rousseff die guten Beziehungen zu den USA kaum ernsthaft gefährden wollen.