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Politik

Favelas: Alleingelassen mit COVID-19

2. Juli 2020

In Brasiliens Armenvierteln ist der Staat kaum präsent. Die Bewohner organisieren sich deshalb selbst, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen - mit Genehmigung der dort oft herrschenden Drogengangs.

Brasilien Sao Paolo Coronavirus | Straßenszene
Bild: Reuters/A. Perobelli

Corona war in Brasilien zunächst das Virus der Reichen. Der erste registrierte Fall war ein Geschäftsmann aus São Paulo, der zuvor nach Norditalien gereist war. Doch mittlerweile ist das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas mit 1,4 Millionen Infizierten und 60.000 Toten einer der Hotspots der Pandemie, und das Virus ist längst auch bis in die Favelas, die Armensiedlungen der großen Metropolen, vorgedrungen.

Den mehr als 13 Millionen Brasilianern, die in den Armenvierteln leben, scheinen große Infektionswellen zwar bislang erspart geblieben zu sein. Doch die Sorge ist groß, dass sich das jederzeit ändern könnte. Das Coronavirus trifft dort auf denkbar gute Bedingungen, um sich auszubreiten: Die Menschen leben dicht gedrängt auf engstem Raum und unter schlechten hygienischen Bedingungen; es mangelt oft am Nötigsten wie etwa Seife oder einer funktionierenden Kanalisation.

Und wegen Corona zuhause zu bleiben, kann sich hier kaum einer leisten. "Wer tagsüber nicht rausgeht und arbeitet, hat abends nichts zu essen", beschreibt auch Michele Silva die Situation vieler Bewohner. Sie lebt in der Rocinha in Rio de Janeiro, einer der größten Favelas des Landes, und hat dort die Bürgerzeitung "Fala Roça" mitbegründet.

Corona-Pandemie in Brasilien

02:33

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"Wer aus dem Haus geht, bekommt eine Kugel in den Kopf"

Trotz dieser Schwierigkeiten hätten in den ersten Wochen der Pandemie noch viele Bewohner versucht, die Kontaktbeschränkungen einzuhalten, so Silva. "Doch dann fing Präsident Bolsonaro an, das Coronavirus als 'kleine Grippe' zu verharmlosen. Das war nicht gerade hilfreich."

Ein weiterer Grund, warum die Kontaktbeschränkungen in der Anfangsphase der Corona-Krise besser eingehalten wurden, könnte sein, dass damals in einigen Favelas Drogengangs eigene Ausgangssperren verhängten, so auch in der Rocinha. Die dort dominierende Bande soll laut Medienberichten gedroht haben: "Wer aus dem Haus geht, bekommt eine Kugel in den Kopf."

Unter anderem in der Rocinha wiesen Drogengangs die Bewohner zu Beginn der Krise an, zuhause zu bleibenBild: picture-alliance/imageBROKER/F. Kopp

Eine Bewohnerin eines anderen Armenviertels in Rio erzählt: "Wir sollten von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens nicht vor die Tür. Außerdem haben die Drogendealer Menschenansammlungen verboten und eine Maskenpflicht angeordnet." Die Regelungen hätten etwa einen Monat gegolten, so die Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Danach hätten die Dealer nicht mehr viel von sich hören lassen.

Die meisten Favelas in Brasilien sind als informelle Siedlungen ehemaliger Sklaven entstanden. Der Staat ist dort wenig bis gar nicht präsent. Stattdessen haben sich Drogengangs ausgebreitet - und seit den Jahren ab 2000 auch Milizen, die sich aus aktiven und ehemaligen Polizisten, Feuerwehrleuten und anderen Beamten zusammensetzen.

Bewohner rufen eigenen Ambulanzdienst ins Leben

Über die Rolle der organisierten Kriminalität in der Corona-Krise möchte Michele Silva allerdings ungern sprechen - genau wie Gilson Rodrigues, der die "Union der Bewohner und des Handels von Paraisópolis" leitet. Damit ist er so etwas wie ein Bürgermeister oder Sprecher der Favela von circa 100.000 Einwohnern in São Paulo. Lieber weist der 36-Jährige darauf hin, wie viel die Bewohner selbst geleistet haben, um das Coronavirus einzudämmen. "Wir werden seit jeher und auch in dieser Frage von der Politik alleingelassen", so Rodrigues. Man habe deshalb in Eigenregie unter anderem einen Stadtplan erstellt und für jede Straße einen Freiwilligen zum "Präsidenten" ernannt. Dieser behalte die Krankheitssituation in seinem Bereich im Blick und rufe gegebenenfalls einen Krankenwagen.

Die "Straßenpräsidenten" bekommen Instruktionen und Kartons mit Desinfektionsmitteln, Seife und MaskenBild: Imago Images/ZUMA Wire/M. Chello

"Und da der reguläre Notfallhilfsdienst weder nach Paraisópolis noch in viele andere Favelas kommt, haben wir selbst drei Krankenwagen angemietet und Ärzte angestellt." Finanziert wird die Initiative vor allem durch Crowdfunding und andere Spenden - die Stadtverwaltung habe laut Rodrigues dagegen "null" geholfen.

Aufklärungsarbeit mit Lautsprechern und Plakaten

Die Bewohner von Paraisópolis produzieren auch etwa eigene Masken, sie verteilen Hygiene-Kits und Lebensmittel. Zwei Schulen wurden in Isolationszentren für Corona-Kranke und Verdachtsfälle umgewandelt - bisher haben bereits 300 Personen dort eine zweiwöchige Quarantäne verbracht.

Die Sporthalle einer der zum Isolationszentrum umfunktionierten Schulen in ParaisópolisBild: Uniao dos Moradores e do Comércio de Paraisópolis

In der Rocinha in Rio haben Bürgerinitiativen ähnliche Aktionen gestartet, wie Michele Silva erzählt. Zudem gebe es Informationskampagnen, bei denen über Lautsprecher, per WhatsApp oder auf Plakaten über die Gefahren von COVID-19 aufgeklärt werde. "Wir von 'Fala Roça' verfassen ebenfalls viele Beiträge über das Virus. Und wir versuchen, bei den Infektionszahlen den Überblick zu behalten."

Welche Rolle spielen Drogengangs?

Abgesehen von den Berichten über eigenmächtig verhängte Ausgangssperren zu Beginn der Corona-Zeit ist wenig darüber bekannt, inwieweit Drogengangs in Aktionen der Virusbekämpfung involviert sind, sei es als Akteure oder als Geldgeber. Man könne jedoch zumindest davon ausgehen, dass nichts in den Favelas ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung geschehe, meint Rafael Soares Gonçalves von der Päpstlich-Katholischen Universität Rio de Janeiro, der schon viel zu Armenvierteln geforscht hat.

Vor diesem Hintergrund klingt auch eine Schlagzeile von Anfang April plausibel, der zufolge der damalige brasilianische Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta im Kampf gegen Corona den Dialog mit den Drogengangs suchen wollte. Doch Mandetta wurde kurz darauf entlassen; danach war von derartigen Plänen nichts mehr zu hören.

Polizeirazzien trotz Corona

Die Favela-Bewohner sind es seit jeher gewohnt, sich selbst zu organisieren. Doch statt angesichts der aktuellen Ausnahmesituation Hilfe vom Staat zu bekommen, sahen sich viele während der Corona-Krise mit fortgesetzter Polizeigewalt konfrontiert. Laut dem brasilianischen Institut für öffentliche Sicherheit (ISP) wurden alleine im April und Mai im Bundesstaat Rio de Janeiro mehr als 300 Menschen bei "Interventionen von Beamten" getötet - einer von ihnen war der 14-jährige João Pedro Mattos Pinto, der in seinem Zuhause von Dutzenden Kugeln getroffen wurde. Sein Fall sorgte landesweit für Empörung.

Demonstration gegen Polizeigewalt Anfang JuniBild: Reuters/I. Cheibub

Anfang Juni dann verbot Brasiliens Oberstes Gericht die Razzien in den Armenvierteln während der Corona-Pandemie. Gonçalves sagt: "Das brutale Vorgehen der Beamten in einer Situation, in der viele Bewohner zuhause und viele Bürgerinitiativen auf den Straßen waren, hat viel Unverständnis hervorgerufen. Eine Gesellschaft, die so etwas zulässt, ist doch krank."

Steht das Schlimmste noch bevor?

Während Razzien ohne eine Genehmigung der Staatsanwaltschaft also zumindest vorerst verboten sind, ist die Gefahr des Coronavirus selbst noch lange nicht gebannt. Gilson Rodrigues glaubt: "Der einzige Grund, warum es bislang noch keine Katastrophe gab, ist, dass die Zivilgesellschaft sich so gut organisiert hat."

Auch Michele Silva hat Angst vor dem, was noch bevorstehen könnte - vor allem, da jetzt vielerorts in Brasilien trotz steigender Infektionszahlen die Corona-Beschränkungen gelockert werden. "Ich habe Angst, dass sich die Krise verschlimmert und wir der Lage dann nicht mehr Herr werden."

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