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Politik

Brasilien: Bolsonaro im Kreuzfeuer

17. Juli 2021

Ein Corona-Untersuchungsausschuss fördert mutmaßliche Korruption bei der Impfstoff-Beschaffung zutage. Und ein alter Skandal erhält neue Schärfe. Steht Bolsonaros Präsidentschaft vor dem Aus?

Brasilien Brasilia | Jair Bolsonaro
Bild: Adriano Machado/REUTERS

Es sieht derzeit nicht rosig aus für Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro. Und das nicht nur gesundheitlich. Wie eine der beliebten Telenovelas verfolgen täglich viele Menschen in dem südamerikanischen Land die Sitzungen des parlamentarischen Untersuchungsaussschusses. Die Comissão Parlamentar de Inquérito, kurz CPI, untersucht seit Ende April mutmaßliche Versäumnisse und Fehler der Regierung im Umgang mit der Corona-Pandemie.

Der Druck auf Bolsonaro hat sich zusätzlich erhöht, nachdem die Online-Nachrichtenseite UOL neue Informationen zum schon länger bekannten sogenannten "Rachadinha"-Skandal lieferte. Die vielen Negativschlagzeilen lassen den Rückhalt in der Bevölkerung schwinden und ein Amtsenthebungsverfahren scheinbar in greifbare Nähe rücken.

Wie die Lage für den Rechtspopulisten tatsächlich aussieht - hier ein Überblick.

Demonstranten in Rio de Janeiro fordern Bolsonaros Rücktritt (03.07.2021)Bild: picture alliance/dpa/ZUMA Wire

Welche Vorwürfe gibt es gegen Bolsonaros Corona-Politik?

Brasilien steht sowohl bezüglich der registrierten Corona-Fallzahlen (über 19,2 Millionen) als auch bezüglich der Toten (fast 540.000) weltweit an dritter Stelle. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, die Pandemie im Land massiv verschlimmert zu haben, indem er die Gefahren des Coronavirus immer wieder herunterspielte, unwirksame Malaria-Mittel anpries und den Nutzen von Impfungen in Frage stellte.

Der deshalb ins Leben gerufene Untersuchungsausschuss hat in den vergangenen Wochen den Eindruck von Versäumnissen verstärkt und einen Impfstoff-Skandal aufgedeckt. So soll Bolsonaro von Luis Ricardo Fernandes Miranda, einem Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums, über Unregelmäßigkeiten bei der Beschaffung des in Indien hergestellten Serums Covaxin informiert worden sein. Das Vakzin wurde anscheinend in großen Mengen und zu überteuerten Preisen bestellt, obwohl es in Brasilien noch nicht zugelassen ist.

Miranda sagte Ende Juni vor der CPI aus, dass Bolsonaro versprochen habe, die Bundespolizei einzuschalten - dann aber doch nichts in dem mutmaßlichen Korruptionsfall unternommen habe. Bolsonaro bestreitet die Vorwürfe und bezichtigt Miranda der Verleumdung. Doch der Logistikdirektor im Gesundheitsministerium, Roberto Dias, musste bereits zurücktreten und wurde sogar zeitweilig inhaftiert, und die Bundespolizei leitete Ermittlungen auch gegen Bolsonaro ein.

Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsministeriums und zwei Senatoren am 6. Juli vor dem Corona-Untersuchungsausschuss Bild: Adriano Machado/REUTERS

Der Covaxin-Skandal lässt die Impfpolitik des Präsidenten in einem noch schlechteren Licht erscheinen. So waren Angebote über Millionen Dosen von BioNTech/Pfizer im vergangenen Jahr von der Regierung abgelehnt worden. Bolsonaro positionierte sich zudem deutlich gegen die Initiative des Bundesstaats São Paulo, Lieferungen des chinesischen Coronavac-Impfstoffs zu organisieren.

Was hat es mit dem "Rachadinha"-Skandal auf sich?

"Rachadinha" (etwa: ein bisschen teilen) wird in Brasilien ein System zur Abzweigung öffentlicher Gelder genannt, bei dem Mitarbeiter von Abgeordneten einen Teil ihrer öffentlichen Gehälter wieder an die Politiker zurücküberweisen. Dabei kann es sich um eine Erpressung der betroffenen Angestellten handeln, denen gedroht wird, sie ansonsten zu entlassen; meistens handelt es sich aber um Freunde, Bekannte und Verwandte, die "die Funktion, für die sie eingestellt wurden, gar nicht erfüllen, sondern sozusagen Geistermitarbeiter sind", wie Politikwissenschaftlerin Camila Rocha erklärt. 

So sollen mehrere politisch tätige Söhne Bolsonaros seit Jahren Geistermitarbeiter aus dem Dunstkreis der Familie untereinander ausgetauscht haben. Auch Jair Bolsonaro selbst wird vorgeworfen, in seiner Zeit als Abgeordneter in diese Praxis involviert gewesen zu sein.

Jair Bolsonaro 2019 mit seinem ältesten Sohn Flavio, der Senator für den Bundesstaat Rio de Janeiro istBild: O Globo/ZUMA Wire/imago images

Dies legten zuletzt Audio-Aufnahmen seiner Ex-Schwägerin Andrea Siqueira Valle nahe, die von der Nachrichtenseite UOL veröffentlicht worden sind. Darin erzählt sie, Bolsonaro habe ihren Bruder entlassen, weil dieser nicht genug von seinem Gehalt wieder zurückgegeben habe. Ein Rechtsvertreter Bolsonaros weist die Anschuldigungen laut UOL zurück.

Wie stehen die Brasilianer zu Bolsonaro?

In den vergangenen Monaten ist es mehrfach zu Massenprotesten gegen Bolsonaro gekommen. Kürzlich sprach sich in einer Umfrage zum ersten Mal eine absolute Mehrheit für ein Amtsenthebungsverfahren aus: 54 Prozent waren in der vom Institut Datafolha durchgeführten Befragung dafür. Zudem stellten 51 Prozent der Befragten Bolsonaros Arbeit das Zeugnis schlecht oder sehr schlecht aus.

Hauptverantwortlich für die derzeit schwindende Beliebtheit ist Camila Rocha zufolge - die im Rahmen ihrer Tätigkeit beim Studien- und Forschungszentrum CEBRAP selbst immer wieder Umfragen durchführt - eindeutig der Covaxin-Skandal. "Auch unter denen, die Ende 2018 für Bolsonaro gestimmt haben und die sagen, sie würden ihn trotz allem wiederwählen, hat sich die Stimmung geändert", fügt sie hinzu. Hätten diese Wähler bei der vergangenen Wahl noch daran geglaubt, Bolsonaro könnte wirklich eine Veränderung bringen - zentrale Versprechen waren der Kampf gegen Korruption und Kriminalität - so sei bei vielen nun Ernüchterung eingekehrt, und sie würden nur noch für ihn stimmen, weil er für sie im Vergleich "der am wenigsten schlechte der Politiker in der realen Politik" sei.

Wie wahrscheinlich ist eine Amtsenthebung Bolsonaros?

In den Medien und bei Bolsonaro-Gegnern ist dieser Tage immer öfter von einem Amtsenthebungsverfahren die Rede. Bolsonaros Handlungen könnten in der Tat als Amtspflichtsverletzungen angesehen werden, und der Senat könnte deshalb als letzten Schritt eines Impeachmentverfahrens mit einer Zweidrittelmehrheit für seine Absetzung votieren, so wie 2016 bei Bolsonaros Vor-Vorgängerin Dilma Rousseff. An Anträgen für ein solches Verfahren mangelt es nicht: Verschiedene Oppositionsparteien haben sich Ende Juni zusammengeschlossen und einen "Super-Antrag" für ein Impeachment gegen Bolsonaro eingereicht, in dem sie 120 Einzelanträge zusammenfassten. Es ist das erste Mal, dass die Opposition mit dieser Forderung geschlossen auftritt.

In rote Farbe getränkte Geldscheine bei einem Protest - eine Metapher für den Covaxin-SkandalBild: Roosevel Cassio/REUTERS

Dennoch gilt es als sehr unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Denn ein Amtsenthebungsverfahren könnte nur von Arthur Lira eröffnet werden, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses, also der zweiten Kammer des Nationalkongresses. Und Lira gilt als treuer Bolsonaro-Verbündeter und hat bislang keinerlei Anstalten in diese Richtung gemacht. 

Das könnte sich aus Sicht des Justizexperten Rafael Mafei nur ändern, wenn sich der Druck auf Lira deutlich erhöht und "Parteien und führende Politiker, die heute noch nicht offen ein Impeachmentverfahren unterstützen, öffentlich fordern, dass er die bereits erhaltenen Anträge bearbeitet." Oder wenn der Druck von der Straße zunehme und Bolsonaro weitere Unterstützung in der Bevölkerung verliere.

"In einem Ausnahmefall könnte Lira auch zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gezwungen werden, wenn ein Urteil des Bundesgerichtshofs Bolsonaros Handeln als verfassungswidrig erklärt", sagt Mafei, der Rechtsprofessor an der Universität von São Paulo ist. Dort gebe es bereits Vorermittlungen gegen den Präsidenten.

Jedoch hat Bolsonaro auch hier an wichtiger Stelle einen Verbündeten: den derzeitigen Generalstaatsanwalt Augusto Aras, der 2019 von Bolsonaro ins Amt berufen wurde - und der die Anklage erheben müsste.

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