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Brauchen wir mehr Migranten in der Politik?

7. Dezember 2010

Migranten sollen sich besser in Deutschland integrieren. So lautet eine gern wiederholte Forderung deutscher Politiker. Dabei haben gerade auch einige deutsche Parteien Nachholbedarf bei der Integration von Migranten.

Andreas Wüst (Grafik: DW)
Dr. Andreas WüstBild: DW

Einwanderer und ihre Nachkommen sind längst nicht mehr nur Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, sondern aktiv am politischen Prozess beteiligt. Etliche von ihnen engagieren sich in politischen Parteien und sind bereit, als Abgeordnete in Gemeinderäten oder Parlamenten unser Gemeinwesen mit zu gestalten. Allein im Bundestag, den Parlamenten der Bundesländer und im Europaparlament finden sich mittlerweile 66 Abgeordnete mit Migrationshintergrund, in den Städten und Gemeinden kommen schätzungsweise noch einmal mindestens zwei Mal so viele Politiker mit einer Migrationsbiografie hinzu.

Dabei sind die verschiedenen politischen Parteien unterschiedlich offen oder unterschiedlich interessiert an Abgeordneten mit Migrationshintergrund. Nur ein gutes Viertel der 66 Abgeordneten findet sich bei CDU oder FDP, drei Viertel jedoch bei SPD, Grünen und Linkspartei. Und diese Abgeordneten unterscheiden sich auch nach Typ und Herkunftsregion. Eine recht nützliche Klassifikation der verschiedenen Migrationshintergründe findet in Kanada Anwendung: Hier wird zwischen "sichtbaren" und "nicht-sichtbaren" Minderheiten unterschieden. Während als "nicht-sichtbare" Minderheiten "Weiße europäischer Herkunft" bezeichnet werden, fallen die anderen Bürger in die Gruppe "sichtbarer Minderheiten".

66 Abgeordnete

Wird dieses Kriterium auf die deutschen Abgeordneten mit Migrationshintergrund angewandt, dann finden sich mehr Politiker mit sichtbarem Migrationshintergrund, zum Beispiel aus der Türkei, bei linken als bei bürgerlichen Parteien. Wie die Grafik zeigt, gibt es bei den bürgerlichen Parteien dafür häufiger Abgeordnete, die nicht ohne Weiteres als Migranten erkennbar sind, zum Beispiel aus europäischen Nachbarländern.

Migranten, vor allem solche mit sichtbarem Hintergrund, sind demnach in den Parteien und Fraktionen unterschiedlich präsent. Aber bedeutet die reine Präsenz schon, dass Migrationsaspekte im parlamentarischen Alltag häufiger oder anders wahrgenommen oder debattiert werden? Nicht notwendigerweise. Allerdings zeigen eigene Analysen, dass Politiker mit Migrationshintergrund im Parlament häufig Migrations- und Integrationsfragen selbst aufgreifen. Dieses Muster individueller Aktivität, zum Beispiel in Form schriftlicher Fragen an die Regierung, ist bei Abgeordneten mit sichtbarem Migrationshintergrund ausgeprägter als bei Abgeordneten, deren Migrationshintergrund kaum erkennbar ist.

Präsenz ist wichtig

Das bedeutet, dass durch die Präsenz von Politikern mit sichtbarem Migrationshintergrund häufiger über migrationsbezogene Aspekte diskutiert wird. Darüber hinaus ist es hoch plausibel, dass die Präsenz auch dazu führt, dass über manche Themen anders gesprochen wird. So macht es einen Unterschied, ob in einem Parlamentsausschuss bei An- oder Abwesenheit eines Politikers mit anderer Hautfarbe oder leichtem Akzent über Fragen von Diskriminierung oder Chancengleichheit diskutiert wird. Die Anwesenheit eines potenziell von einem Thema Betroffenen erhöht die Chance, sich darüber unmittelbar, intensiv und möglicherweise auch ernsthafter auszutauschen.

Für die Qualität der Demokratie in Deutschland ist es von Bedeutung, ob es Abgeordnete mit Migrationshintergrund gibt oder nicht. Durch sie werden Migranten in einer Gesellschaft auch an prominenter Stelle sichtbar. Durch sie kann ferner eine authentische Migranten- und Minderheitenperspektive auf verschiedene politische Themen eingenommen werden. Diese ergänzende Perspektive verändert politische Diskussionen und erhöht damit zumindest das Potenzial, am Ende des Diskussionsprozesses zu veränderten Politik-Ergebnissen zu kommen.

Die Parteien tun gut daran, für Migranten offen zu sein und sie, unabhängig von ihrer Herkunft, in die Partei- und Fraktionsarbeit einzubinden. Sie leisten damit in mehrfacher Hinsicht einen Beitrag zur politischen Integration von Migranten und ihren Nachkommen.

Autor: Andreas Wüst
Redaktion: Kay-Alexander Scholz

Bild: privat

Dr. Andreas Wüst, geboren 1969, ist Politikwissenschaftler am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Sein Forschungsschwerpunkt ist u. a. das Thema Migranten und deren politische Integration. Er wohnt in der Nähe von Heidelberg.