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Politik

Zwischen Trauma und politischer Aufarbeitung

Naomi Conrad
24. Mai 2017

Zwölf Menschen starben bei dem Attentat auf einen Berliner Weihnachtsmarkt. Während die Politik über Polizeiversagen diskutiert, erhalten Überlebende und Angehörige Hilfe. Aber die Erinnerungen werden sie nicht los.

Deutschland Trauer nach Anschlag am Breitscheidplatz
Bild: Reuters/F. Bensch

Als die ersten Nachrichten aus Manchester kamen, über die Explosion, die Toten, die Berichte von Angst und Panik, da habe er sofort an die Betroffenen gedacht, erzählt Kurt Beck, "an alles, was bei ihnen jetzt wieder hochkommt". Die Betroffenen: Die Menschen, die am 19. Dezember beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz dabei waren - oder deren Angehörige. Kurt Beck ist der Opferbeauftragte des Bundes für die Menschen, deren Leben seit diesen Tag nicht mehr dasselbe ist.

Beck weiß, was die Erinnerungen auslösen können. Die Angst und das Grauen holen die Menschen wieder ein, manchmal mitten im Gespräch. Sie zittern am ganzen Leib und schwitzen, erzählt er. Manche befinden sich innerlich plötzlich wieder auf dem Weihnachtsmarkt, auf dem die Lichter funkelten und die Menschen feierten, bis Anis Amri einen Lastwagen in die Menge lenkte, um möglichst viele in den Tod zu reißen. Zwölf Menschen hat er getötet, Dutzende verletzt, etliche davon schwer. Ein Trauma, das viele Betroffene möglicherweise ihr Leben lang mit sich tragen werden.

Etwa der fünfjährige David aus Bielefeld, dessen Mutter mit Kolleginnen auf dem Breitscheidplatz war. Eine intelligente, schöne Frau, die Stricken liebte, sagt ihr Mann, Petr Cizmar, dessen Stimme leicht gefärbt ist vom tschechischen Akzent seines Heimatlandes. Er erzählt von einer dreitägigen Odyssee durch Berlin, der Stadt, die überfordert schien, schlecht vorbereitet auf solch einen Extremfall.

Hätte der Anschlag verhindert werden können? Bild: DW/F. Hofmann

Es kostete Cizmar zahlreiche Anrufe bei der Hotline, Besuche bei Polizeistationen und in einem Krankenhaus, bis er schließlich die endgültige Gewissheit erhielt, dass seine Frau tot war. Seitdem vergewissere sich sein Sohn andauernd, ob er noch lebe. "Er kommt immer wieder in mein Zimmer, um zu gucken, dass nichts mit mir ist. Das ist schrecklich."

Entschädigung auf den Weg gebracht

Solche Geschichten hat Beck in den vergangenen Wochen fast ununterbrochen gehört: Er ist durch ganz Deutschland gereist, hat mit Angehörigen geredet und den Menschen, die selbst am Breitscheidplatz waren. Fast 120 Menschen stehen auf seiner Liste, sagt er, sie alle hat er angeschrieben, ihnen Gespräche angeboten. Rund vierzig Menschen hat er seit seiner Ernennung im März getroffen, und die Erzählungen der Opfer und der Hinterbliebenen lassen ihn nicht los. "Man geht damit ins Bett und am nächsten Morgen steht man mit den Gedanken wieder auf", so sagt er es.

Aber Beck hört nicht nur zu, er versucht, die Menschen finanziell zu unterstützen. Es geht um Hinterbliebenenrenten, Mittel aus den verschiedenen Hilfefonds und Töpfen, die den Opfern zustehen, es geht um Umschulungen für diejenigen, die ihre Arbeit nicht mehr ausüben können und oft auch um langfristige Unterstützung für die, die nie wieder richtig gesund werden. Zehn bis zwölf Menschen, so schätzt Beck, sind noch in akuter Behandlung in der Berliner Charité und in Reha-Einrichtungen. 

Beck versucht ihnen ein, wie er sagt, "materielles Paket zu schnüren" und weiß doch, dass es nie den Schmerz und die Trauer auslöschen kann. Die Entschädigungen seien auf den Weg gebracht, die Ämter arbeiteten gut. 800.000 bis eine Millionen Euro seien bereits ausgezahlt worden.

"Das ist Staatsversagen"

Andere Betroffene sind oft schlicht überfordert von der Bürokratie. Petr Cizmar erzählt von einem Berg von Formularen, die er seit dem Tod seiner Frau ausfüllen muss. "Das ist belastend. Ich bin so erschöpft." Dieses Jahr kommt sein Sohn in die Schule, Beck habe ihm versprochen, ihm bei der Schulsuche zu helfen. Das sei eine große Hilfe, freut sich Cizmar, immerhin.

Aber manchmal, trotz der Trauer, trotz der Erschöpfung, kocht in ihm die Wut hoch: Darüber, dass der Täter der Polizei bekannt war und trotzdem nicht festgenommen wurde. Der Witwer verfolgt die Nachrichten, die Vorwürfe, dass die Akte Anis Amris, des Täters, eventuell im Nachhinein manipuliert, wichtige Details möglicherweise gelöscht worden seien. Damit soll sich jetzt ein Untersuchungsausschuss in Berlin befassen. Cizmar kann das nicht verstehen: "Das ist doch Versagen des Staates, der soll doch die Bürger schützen und nicht die Kriminellen." Er klingt müde.

Es falle ihm schwer, über die Tage nach dem Anschlag zu reden, über seinen Sohn, seine Frau. Aber Cizmar tut es trotzdem, wenn Journalisten fragen: Denn "wenn niemand spricht, dann bekommt nur der Täter Aufmerksamkeit." Er redet, damit nicht eines Tages, die Betroffenen der Öffentlichkeit egal werden, damit Menschen wie seine Frau nicht vergessen werden. Aber das Erzählen und die Erinnerungen zehren an seiner Kraft.

Irgendwann, hofft er, wird er mit seinem Sohn nach Berlin fahren und gemeinsam mit ihm auf dem Breitscheidplatz eine Kerze anzünden und sich erinnern, an die Frau und Mutter, die stricken liebte und noch so viele Pläne für die Zukunft hatte.