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KonflikteUkraine

Bremst der Westen die Ukraine im Krieg gegen Russland aus?

Roman Goncharenko
7. Januar 2024

Der Druck auf Bundeskanzler Scholz wächst, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Um sich gegen Russland zu wehren, könnte das Land solche Waffen dringend brauchen. Doch die Westmächte zögern.

Ein ukrainischer Soldat feuert Schüsse aus einem Panzer ab
Die Ukraine fordert mehr Waffen, um weiter gegen Russland kämpfen zu können. Aber nicht nur Deutschland zögert mit der Lieferung. (Archivbild)Bild: Libkos/AP/picture alliance

Nach dem massiven Beschuss ukrainischer Städte durch Russland zu Jahresbeginn werden in Deutschland erneut Rufe laut, Taurus-Marschflugkörper an Kiew zu liefern. Am Freitag sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschuss im Bundestag, FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der Zeitung "Rheinische Post": "Deutschland muss ihn endlich liefern, um die russischen Nachschublinien zu unterbrechen." Mit "ihm" meint sie den Mittelstrecken-Marschflugkörper vom Typ Taurus.

Ein Regierungssprecher hatte noch am Mittwoch die Haltung der Bundesregierung dazu bestätigt. Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt die Lieferung ab mit der Begründung, sie erhöhe die Gefahr einer "Eskalation" und der Einbeziehung Deutschlands in den Krieg. Mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern könnte Taurus gegen Ziele auf russischem Territorium eingesetzt werde. Kiew ist allerdings bereit zu versprechen, dies nicht zu tun.

Wartet Berlin auf Washington?

Die Waffen mit der größten Reichweite - etwa 250 Kilometer - erhält die Ukraine seit Frühjahr 2023 vom Vereinigten Königreich und Frankreich. Mit diesen Raketen - auf Englisch Storm Shadow, auf Französisch Scalp EG genannt - könnte die Ukraine Ziele hinter der Front in den besetzten Gebieten im Donbass und auf der Krim angreifen. International anerkanntes russisches Gebiet darf auch damit nicht beschossen werden. Dies gehört zu den Lieferbedingungen für alle Waffen, die der Westen der Ukraine liefert. Doch Berlin reicht das offenbar nicht.

Die Krim-Brücke verbindet das russische Festland und die Halbinsel Krim über die Straße von Kertsch Bild: AP/dpa/picture alliance

"Mir scheint, dass Bundeskanzler Scholz der Ukraine die Taurus nur dann zur Verfügung stellen wird, wenn die USA eine ähnliche Waffe bereitstellen", sagte Nico Lange, Experte der Münchner Sicherheitskonferenz, der DW. Dies könnten ATACMS sein, ballistische Raketen mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern. Im Herbst 2023 lieferten die USA bereits ATACMS-Raketen mit Streusprengköpfen und einer Reichweite von rund 160 Kilometern an die Ukraine. 

Als es vor einem Jahr darum ging, der Ukraine moderne Kampfpanzer bereitzustellen, lief es schon einmal ähnlich. Auch damals stimmte Deutschland erst zu, nachdem Washington dies getan hatte. Lange sagt, er hoffe, dass diese Entscheidung in Berlin und Washington schon "bald" auch für Mittelstreckenwaffen getroffen werde.

Eines der Merkmale von Taurus-Raketen ist, dass sie als ideal für die Zerstörung von Bunkern und Brücken gelten. Die Krim-Brücke wäre ein solches Ziel mit großer strategischer Bedeutung. Doch bisher haben die ukrainischen Streitkräfte die Brücke zwischen Russland und der Krim nicht mit westlichen Waffen angegriffen, obwohl ein Großteil des Bauwerks auf dem völkerrechtlichen Territorium der Ukraine steht.

Kiew hat Wort gehalten

Von Beginn der russischen Invasion an hatte der Westen festgelegt, dass seine Waffen nicht eingesetzt werden dürfen, um international anerkanntes russisches Territorium anzugreifen. Kiew hat dem immer zugestimmt und sein Wort bisher gehalten: Ob Drohnenangriffe auf Moskau, zu denen sich Kiew offiziell nicht bekannt hat, oder Angriffe der ukrainischen Marine auf russische Schiffe in Noworossijsk - die Ukraine hat dafür offensichtlich eigene Entwicklungen genutzt. Gleiches gilt für die Angriffe der ukrainischen Streitkräfte auf Ziele in der russischen Stadt Belgorod um den Jahreswechsel.

Zerstörte Fahrzeuge im Gebiet Belgorod, Mai 2023 Bild: Russian Defence Ministry/TASS/picture alliance

Es gab nur wenige Vorfälle, bei denen Kampfverbände auf Seiten der Ukraine westliche Waffen auf russischem Territorium eingesetzt haben könnten. So berichteten am 13. Mai 2023 russische und ukrainische Quellen, dass eine russische Kampffliegergruppe bestehend aus etwa vier Flugzeugen und Hubschraubern in der Region Brjansk an der Grenze zur Ukraine abgeschossen wurde. Es gab Vermutungen, dass die ukrainischen Streitkräfte das amerikanische Luftabwehrsystem Patriot eingesetzt hätten.

Ungefähr zur gleichen Zeit, kurz vor der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer, drangen Kämpfer der "Legion Freiheit Russlands" und "Russisches Freiwilligenkorps" aus dem Gebiet der Ukraine in die russische Region Belgorod ein. Es handelt sich um paramilitärische Gruppen, die nach eigenem Bekunden russische Staatsbürger sind, die sich gegen Putin stellen. Bei ihrer Operation in Belgorod setzten sie westliche Waffen und leichte westliche gepanzerte Fahrzeuge ein, was bei den Partnern der Ukraine Kritik hervorrief. Weitere derartige Fälle sind nicht bekannt.

Der Westen will Russland nicht "provozieren"?

Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, General Walerij Saluschnyj, hat wiederholt erklärt, dass es für den Sieg der Ukraine wichtig sei, die russische Armee auch auf eigenem Territorium anzugreifen: "Im Krieg ist es möglich und notwendig, den Feind auf seinem Territorium zu töten", sagte Saluschnyj in einem Interview mit der Washington Post im Juli 2023. Wenn die Partner der Ukraine "Angst" hätten, dass ihre Waffen eingesetzt würden, "werden wir mit unseren eigenen töten".

Derzeit verfüge die Ukraine ohnehin über "kritisch wenige westliche Raketen, um sie für Angriffe einzusetzen, die auf dem Schlachtfeld nichts ändern können", sagte der Kiewer Militärexperte Serhij Hrabskyj der DW. "Die gelieferten Waffen sind wirksamer gegen taktische Objekte, die sich vor allem im besetzten Gebiet der Ukraine befinden." Erst wenn es Hunderte - statt Dutzende - westliche Raketen gäbe, lohne es sich überhaupt, aus militärischer Sicht zu erwägen, sie auch gegen Ziele etwa in der Region Belgorod einzusetzen.

Hrabskyj äußert Verständnis für die Position Deutschlands und des Westens. Die Partner der Ukraine seien derzeit nicht bereit, die Gefahr eines russischen Angriffs auf NATO-Staaten abzuwehren. Daher wolle man die Atommacht Russland nicht provozieren.

Die UN-Charta gibt der Ukraine das Recht, sich zu wehren

Nach Ansicht von Markus Reisner, Historiker und Oberst des Generalstabs des österreichischen Bundesheeres, "gründet die Angst vieler westlicher Länder oft auf reinem Egoismus". Man wünsche sich "das alte Leben" zurück und wolle wieder "gute Geschäfte" mit Russland machen. Doch das sei vorbei, meint Reisner. Insofern verweigere der Westen der Ukraine indirekt das Recht, ihr völkerrechtlich anerkanntes Territorium zu verteidigen: "Man liefert nicht alles, was man in der eigenen militärischen 'Werkzeugkiste' verfügbar hat", sagte Reisner der DW. "Nägel ohne Hammer einzuschlagen, ist jedoch schwierig."

Anfang Januar 2024 startete Russland wieder heftige Angriffe auf KiewBild: Yevhen Kotenko/REUTERS

Reisner zufolge führen die ukrainischen Streitkräfte seit langem Spezialoperationen auf russischem Territorium durch. Drohnenangriffe seien eher dazu geeignet, der russischen Bevölkerung zu zeigen, dass "der Krieg nicht irgendwo in der Ferne tobt". Der Experte räumt ein, dass es schwierig sei, zivile Opfer in städtischen Umgebungen zu vermeiden, aber gemessen an dem, was Russland selbst tue, habe das Vorgehen der Ukraine in Russland sehr geringe Folgen: "Die Russen haben in wenigen Tagen mehr als 500 Raketen- und Drohnenangriffe durchgeführt", sagt Reisner und kritisiert abermals die NATO: "Wie hat der Westen reagiert? Ein paar dürre Sätze und Absichtserklärungen."

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