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Politik

Brexit: Britische Industrie auf den Barrikaden

Barbara Wesel
5. Juli 2018

Die britische Industrie hat lange gewartet, jetzt aber drohen immer mehr Unternehmen mit Konsequenzen bei einem hartem Brexit. Und es gibt Zweifel, ob Theresa Mays neue Vorschläge reichen, um die Ängste zu beruhigen.

England Jaguar Land Rover Autofabrik in Solihull
Bild: picture-alliance/dpa/D. Jones

Je näher der schicksalhafte Freitag rückt, an dem Theresa May ihrem Kabinett ihren jüngsten Kompromiss zum Brexit vorlegt, desto nervöser reagiert die britische Industrie. Jaguar-Land Rover ist das jüngste Unternehmen, das der Regierung bei einem "schlechten Brexit" mit Konsequenzen droht. Zwar gehört JLR seit Jahren zur indischen Tata-Gruppe, aber "Herz und Seele (des Unternehmens) ist in Großbritannien", erklärte Top-Manager Ralf Speth jetzt in einer Stellungnahme. "Wir und die Partner in unserer Lieferkette sehen allerdings einer ungewissen Zukunft entgegen, wenn die Brexit-Verhandlungen keinen reibungslosen Grenzverkehr mit der EU erzielen." In dem Fall seien 80 Milliarden Britsche Pfund (GBP) an Investitionen in den nächsten Jahren gefährdet. Der Autohersteller beschäftigt 40.000 Arbeitnehmer in seinen Fabriken und 260.000 bei Zulieferern. JLR befürchtet Milliardenverluste durch Verzögerungen bei Grenzkontrollen nach einem harten Brexit.

Großunternehmen proben den Aufstand

Schon in der vergangenen Woche hatten sich Airbus und BMW, zwei weitere Unternehmen mit bedeutenden Produktionsstätten mit ähnlichen Drohungen zu Wort gemeldet. In einer "Risikobewertung" erklärte das Airbus-Management: Wenn Großbritannien die Zollunion und den Binnenmarkt verließe, würde das zu einer "schwerwiegenden Unterbrechung der Produktion führen". Man müsse dann "seine Investitionen und langfristig die Standorte in Großbritannien überdenken". Airbus UK hat rund 14.000 Beschäftigte, die vor allem die Tragflächen für alle zivilen Airbus-Modelle herstellen, und sichert weitere Tausende Arbeitsplätze bei Zulieferfirmen.

In Großbritannien werden vor allem die Tragflächen der zivilen Airbus-Modelle hergestellt Bild: picture-alliance/dpa/L. Faerberg

Nur einen Tag später äußerte BMW ähnliche Drohungen. Der Autohersteller produziert bei Oxford vor allem den Mini und fordert von der Regierung in London Klarheit über das künftige Verhältnis zur EU - bis Ende des Sommers. Die britische Autoindustrie würde dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn es keinen positiven Brexit-Deal gibt, erklärte BMW-UK-Boss Ian Robertson. Die Warnung bezieht sich sowohl auf die Verlegung von Produktionsstätten in Großbritannien wie auch den Stopp künftiger Investitionen.

Auch der Chef von Siemens UK, wo 15.000 Arbeiter Teile für Kraftwerke und Großanlagen herstellen, fürchtet die Folgen eines schlechten oder harten Brexit. "Es ist sehr schwierig Notfallpläne zu erstellen, weil wir nicht wissen, wofür wir planen sollen", sagt Jürgen Meier. Er fordert, das Königreich solle wenigstens in der Zollunion bleiben, wenn gegenwärtig keine bessere Lösung gefunden werden könne.

Nach den jüngsten Wortmeldungen aus der Industrie beschrieb der frühere Wirtschaftsminister und Liberalen-Chef Vince Cable die Warnungen von Airbus als den "Oh-mein-Gott"-Moment, in dem Leute verstünden, was wirklich passiert.

BMW droht mit der Schließung von Produktionsstandorten in Großbritannien im Falle eines harten BrexitsBild: picture-alliance/empics/A. Devlin

Heißes Eisen endlich angepackt

Lange hatten die großen Unternehmen dem Stillstand bei den Brexit-Verhandlungen und den ideologischen Kämpfen in der Regierung zugeschaut. Brexit-Befürworter brandmarkten von Anfang an alle Zweifel als dem "Projekt Angst" zugehörig und betonten stets die riesigen globalen Vorteile des Brexit. Die EU, behaupteten sie stets, werde ihnen alle Vorteile von Zollunion und Binnenmarkt kostenfrei anbieten, weil sie so sehr vom britischen Markt abhänge.

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall und die Statistiken waren bekannt: 44 Prozent der UK-Exporte gehen in die EU, weitere 14 Prozent an Drittländer, die Europa durch Handelsverträge verbunden sind. Nach dem Brexit verliert Großbritannien auch diese Vorteile und muss alle Abkommen neu abschließen. Umgekehrt gehen nur etwa acht Prozent aller Exporte von EU-Ländern in Richtung Großbritannien. Außerdem zeigt sich die europäische Seite bislang in den Verhandlungen mit der britischen Regierung außerordentlich einig: Sie beharrt auf der Unantastbarkeit ihrer Regeln und lehnt alle Forderungen nach einer "maßgeschneiderten" oder "kreativen" Sonderlösung für die Briten ab.

Unternehmen fürchten ein Nadelöhr an der UK-Grenze in Dover nach dem Brexit Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Durham

Im Juni erklärte der Chef des britischen Industrieverbandes CBI, dass ganze Bereiche der britischen Industrie ausgelöscht würden, wenn das Land nicht in der Zollunion bleibe. Immer mehr Unternehmen würden ihm ihre Sorgen klagen, sagte Paul Drechsler damals, weil fast alle auf den ungehinderten Austausch von Teilen und Rohstoffen mit der EU angewiesen seien. Er könne darüber hinaus keinen Beweis für die angeblichen ökonomischen Vorteile von neuen Handelsabkommen mit Drittländern erkennen. Drechsler nannte die Brexit-Politik der Regierung in London eine "Flutwelle der Ideologie". 

Zweifel an Mays Chequers-Lösung

An diesem Freitag versammelt Theresa May ihr gesamtes Kabinett auf ihrem Landsitz Chequers zu einer Klausurtagung. Nach Berichten in britischen Medien will sie dabei einen neuen Weg vorschlagen, wie Großbritannien sowohl Handelsabkommen mit Drittländern abschließen und gleichzeitig einen reibungslosen Grenzverkehr mit der EU erhalten könne. Die neue Abkürzung heißt hier FCA (facilitated customs arrangement) und der Vorschlag läuft auf eine überarbeitete technische Lösung für künftige Grenzkontrollen hinaus. Tracking Systeme könnten das Endziel von 96 Prozent aller nach Großbritannien gehenden Güter verfolgen. Die Unternehmen könnten also auf der britischen Seite die korrekten Zölle zahlen, die Zollbehörden würden diese Gelder einsammeln und die Summen dann an die EU abführen.

Theresa May wolle einen weichen Brexit, heißt es vor der Kabinettsklausur Bild: Getty Images/AFP/L. Marin

Bisher hat die EU solche Ideen stets abgelehnt. Die EU-Außengrenze könne nicht von einem Drittland, das Großbritannien nach dem Brexit sein wird, kontrolliert werden. Außerdem gebe es die komplizierte Technik bisher nur im Planungsstadium, und eine solche Lösung würde ein Paradies für Schmuggler eröffnen, wie die EU-Unterhändler erklären.

Außerdem löst eine Zollvereinbarung allein noch nicht das dringendste Problem der Brexit-Verhandlungen, nämlich die Frage der Grenze zwischen Großbritannien und Irland. Dabei geht es nicht nur um Zölle beim Warenverkehr, sondern auch um Binnenmarktregeln für Landwirtschaft, Viehzucht und andere Bereiche.

Theresa May wolle einen sehr weichen Brexit, so wird derzeit in London gestreut. Und sie hat beim niederländischen Premier Mark Rutte wie auch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel um Unterstützung geworben. Aber wie ein solcher "soft Brexit" mit dem Ausstieg aus Zollunion und Binnenmarkt vereinbar sein soll, bleibt rätselhaft. Die EU bietet Großbritannien bislang nur zwei Optionen an: Das Norwegen-Modell mit Verbleib im Binnenmarkt und im EU-Regelwerk, das auch in der Folgenabschätzung der britischen Regierung als die am wenigsten schädliche Lösung für die britische Wirtschaft genannt wird. Oder es gibt ein Freihandelsabkommen nach dem Vorbild von CETA zwischen der EU und Kanada. Kommt es zur letzteren, kleineren Lösung, dürfte das nach bisherigem Stand für Teile der britischen Industrie ein Signal zum Umzug sein.

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