Der Herr Doktor will gehen
9. September 2018Die Textnachricht von seiner Tochter bekam Hubertus von Blumenthal früh am Morgen nach dem Brexit-Referendum: "Ich kann es nicht glauben." Er habe erst gar nicht verstanden, dass sich dadurch sein Leben verändern würde, erzählt der deutsche Arzt, der seit fast dreißig Jahren im britischen Gesundheitssystem arbeitet. Über Nacht habe sich "die Atmosphäre im Land verändert". Seine Patienten hätten ihn plötzlich gefragt: "Müssen Sie jetzt weg?" Andere hätten ihm versichert, sie würden ihn weiter brauchen: "Sie gehen doch jetzt nicht nach Hause, Herr Doktor?" "Ich bin zu Hause", hat Blumenthal ihnen da erwidert. Er lebt schließlich länger in Großbritannien als in Deutschland. Und der Arzt ist deprimiert, wie wenig sein langer Dienst im öffentlichen Gesundheitssystem angesichts des Brexit noch zu gelten scheint.
Die Triebfeder ist Fremdenfeindlichkeit
Von Blumenthal arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis im Dorf Gamlingay. Früher wurde hier vor allem Getreide angebaut, inzwischen gehört der Ort zum Einzugsgebiet der boomenden Universitätsstadt Cambridge. Sein Arztzimmer ist winzig und düster, und man braucht wohl eine ganze Menge Hingabe, sein Berufsleben in diesem Umfeld zu verbringen. Nach endlosen Einsparungen wirken die Einrichtungen im staatlichen Gesundheitssystem meist veraltet und ärmlich.
In dieser Ecke von Surrey haben die meisten Bewohner für den Brexit gestimmt, erzählt der Doktor, sie sind eher älter und traditionsverbunden und haben keine Vorstellung von der globalisierten Wirtschaft. Im nahen Cambridge ist es genau umgekehrt: Die Studenten und Wissenschaftler kommen aus aller Welt und zählen sich zur globalen Elite. Sie bringen Wohlstand und Arbeitsplätze in die Region, aber schon dreißig Kilometer außerhalb sehen die örtlichen Bewohner den Zusammenhang nicht mehr.
Wenn die Leute in Gamlingay und den Dörfern in dieser Gegend aber weder arm noch sozial abgehängt sind, was hat dann das Brexit-Votum angetrieben? "Es ist überwiegend Fremdenfeindlichkeit", meint der Arzt. Ihn hat die Situation auch in eine Art persönliche Krise gestürzt: "Eine bestimmte Presse hier hat seit Jahren alles Fremde heruntergemacht", und von ihr hätten viele Leute ihre Meinungen bezogen. Darüber hinaus gebe es überhaupt keine Kenntnisse über die EU. "Ich habe mich immer für die britische Gesellschaft und Politik interessiert. Und die Entscheidung für den Brexit wirkt zersetzender und zerstörerischer als alles, was ich hier erlebt habe."
Das Gesundheitssystem stürzt in die Krise
Für das von jahrelangen Kürzungen gebeutelte Gesundheitssystem droht der Brexit zum Desaster zu werden. "Unsere Patienten müssen immer länger warten und auf manche Behandlungen verzichten", erklärt Hubertus von Blumenthal. Im NHS fehlten schon jetzt 10.000 Ärzte: "Wenn ich gehe, werden sie kaum jemanden finden, der mich ersetzen kann". Fünf Prozent aller britischen Ärzte kommen aus der EU, und fast die Hälfte von ihnen erwägen inzwischen, das Land zu verlassen, schreibt der Vorsitzende des britischen Ärzteverbandes Andrew Goddard. Sogar der damalige Gesundheitsminister Jeremy Hunt hatte im Juni zugegeben, dass die Unsicherheit wegen des Brexit "bedauerlicherweise einige der geschätzten Kollegen aus Europa" aus dem Land treibe.
Für von Blumenthal ist die Rechnung klar: Hunt hatte 5000 neue Ärzte bis 2020 versprochen. Es ist nur unklar, wo sie herkommen sollen. Als das NHS jetzt versucht habe, die Lücken zumindest teilweise zu füllen und in der EU 3000 neue Ärzte anzuwerben, fanden sich gerade einmal 86 Interessenten. "Warum sollte ein europäischer Arzt hier herkommen, wenn seine Karriere, die Bedingungen für ihn und seine Familie, die Anerkennung seiner Qualifikationen, einfach alles in der Luft hängt?", fragt der deutsche Arzt. "Wir leben in der Schwebe und wissen einfach nicht, wie es weiter geht. Alle Zusicherungen gelten nichts, weil der nächste Minister sie mit einem Federstrich ändern kann". Und das gelte nicht nur für Ärzte, sondern auch für Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal im britischen Gesundheitswesen.
Krankenschwestern verzweifelt gesucht
Der königliche Verband der Krankenschwestern ist eine traditionsreiche Einrichtung und residiert in einem feinen Stadthaus in London. Die Stimmung der Vorsitzenden Maria Trewern aber ist kämpferisch. Gerade hat sie in einem Appell an die Regierung gefordert, die Folgen des Brexit für das Gesundheitssystem und dessen Beschäftigte zu berücksichtigen. Die schlimmsten Befürchtungen würden jetzt wahr: "Seit dem Brexit-Referendum haben uns schon 2000 Krankenschwestern aus der EU verlassen. Das ist eine signifikante Zahl, und mit ihnen gehen auch Erfahrungen und Kenntnisse, was dem Gesundheitssystem besonders in Schlüsselbereichen wirklich schadet", sagt Trewern. Und gerade bei europäischen Schwestern seien Ausbildung und Standards eben vergleichbar.
"Wir brauchen diese Arbeitskräfte, und wir sind aufgebracht, weil wir unsere Kollegen so beunruhigt sehen. Sie können ihr Leben nicht planen, ihre Wohnung, Schulen für die Kinder, nichts ist sicher. Wir wollen nicht, dass sie gehen. Wir möchten sie gern behalten, weil wir ihren Beitrag zu unserer Gemeinschaft wirklich schätzen." Und es seien vor allem die Jungen, die das NHS so dringend braucht und durch diese Abwanderung verlieren würde.
Derzeit fehlen in Großbritannien bereits 40.000 Krankenschwestern, und Maria Trewern befürchtet gravierende Folgen für die Patienten. Sie versucht jetzt weltweit Pflegekräfte zu rekrutieren, aber das bedeute auch, sie aus Ländern der Dritten Welt zu holen, wo sie ebenfalls gebraucht werden. Diese Folgen des Brexit hätten die Politiker nicht bedacht, sagt Maria Trewern. "Das haben sie übersehen, weil es ihnen um Politik geht und nicht um das Gemeinwohl. Ich als Krankenschwester aber bin für das Gemeinwohl zuständig."
Die Lage könnte unhaltbar werden
In Gaminglay macht Dr. von Blumenthal nach Dienstschluss noch einen Abstecher in den Dorfpub, wo er ein wenig über Persönliches redet. Der Verlauf der Verhandlungen in Brüssel und die Entwicklungen in London machen ihm auch privat Sorgen: "Es könnte sein, das die Situation für uns unhaltbar wird." Und er habe auch einen Notfallplan, obwohl es ihm schwer fallen werde, weg zu gehen. Nach dreißig Jahren ist er hier verwurzelt und die Kinder und Enkel leben auch in der Gegend. "Meine Frau ist Irin, sie arbeitet für ein globales Unternehmen, wir könnten beide nach Irland gehen und dort neu anfangen."
Hat er Hoffnung, dass der Brexit bis zum 29. März nächsten Jahres noch abwendbar ist? "Viele Leute haben einen quasi religiösen Glauben an den Brexit und wollen nichts anderes wissen, wollen Experten nicht zuhören." Wenn sie in einem zweiten Referendum gegen den Austritt aus der EU stimmen sollten, "müssten sie ja anerkennen, dass sie zuvor eine falsche Entscheidung getroffen haben. Und das ist manchmal schwierig". Außerdem sei die Zeit zu kurz, und es fehle der politische Druck.
Viele Briten hätten auch keine Lust, sich weiter mit dem Thema auseinander zu setzen. Ihr Mantra sei: "Ich habe genug davon. Lasst es uns jetzt einfach machen, selbst wenn es eine bittere Pille ist. Am Ende wird es schon gehen." Ein Fatalismus, den Dr. von Blumenthal nicht teilt. "Seit dem Referendum habe ich jeden Tag irgendwie an den Brexit gedacht". Für Leute wie ihn aber haben Boris Johnson und seine Unterstützer, die erneut gegen die Premierministerin und für den harten Bruch mit der EU kämpfen, keine Antworten bereit.