Brexit - der Kampf um die Zukunft
3. Februar 2020Nach dem Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union will Premier Boris Johnson das Wort "Brexit" aus dem Wortschatz der Briten am liebsten wieder streichen. So hat er sein Verhandlungsteam in Brüssel umbenannt in "Taskforce EU", das Brexit-Ministerium ist aufgelöst. Und er fordert seine Bürger auf, nach vorne zu schauen. Was sie in den nächsten elf Monaten zu sehen bekommen, wird allerdings zunächst der Kampf am Verhandlungstisch sein. Nach der Scheidung geht es um das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien - und die Fronten sind schon abgesteckt.
Ein Wettrennen gegen die Zeit
Boris Johnson hat nicht nur geschworen, er werde die Übergangszeit bis Ende 2020, wo EU-Regeln und Gesetze für Großbritannien noch weiter gelten, um keinen Preis verlängern. Er hat sein Versprechen sogar in ein Gesetz gegossen. Das ist allerdings nur eine Geste, er könnte es jederzeit wieder ändern lassen. Aber zunächst gilt: Die Verhandlungen zwischen der britischen "Taskforce" unter Leitung von David Frost und der EU unter der bewährten Führung von Michel Barnier sind ein Wettlauf gegen die Zeit.
An diesem Montag veröffentlicht Barnier einen ersten Entwurf für sein Verhandlungsmandat, das dann Ende des Monats von den EU-Mitgliedsländern beschlossen werden soll. Offizielle Verhandlungen können also erst Anfang März beginnen, obwohl es bereits informelle Gespräche gibt. Damit bleiben nur neun Monate bis Ende November, um ein Abkommen zu vereinbaren, denn der Dezember wird für die Ratifizierungen und Formalitäten gebraucht.
Angefangen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, über den französischen Präsidenten Emmanuel Macron bis zum irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar haben zahlreiche europäische Politiker gewarnt, die Zeit sei zu kurz. Ein Antrag auf Fristverlängerung für die Übergangszeit müsste allerdings bis Ende Juni eingehen. Man darf gespannt sein, ob Johnson sein Versprechen noch bricht.
Was will die EU?
Michel Barnier verspricht einmal mehr, "die Interessen der Mitgliedsstaaten" beim künftigen Verhältnis zu verteidigen: "Unsere Perspektive ist dabei, dass die Briten nahe wirtschaftliche Partner bleiben, Verbündete und Freunde. Wir müssen einen neuen Rechtsrahmen schaffen, um diese Freundschaft zu befestigen und diese Partnerschaft funktionsfähig zu machen". Das ist die diplomatische Formulierung, hinter der sich allerdings die Erwartung der EU verbirgt, Großbritannien werde von einem Mitgliedsland zu einem Konkurrenten werden, dem alle Mittel recht sind, um die Europäer gegeneinander auszuspielen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Winter sehr deutlich vor dieser Gefahr gewarnt.
Die EU will die Briten also so weit wie möglich an europäische Regeln binden, wenn sie ihnen freien Zugang zum Binnenmarkt ohne Zölle und Hindernisse für ihre Exporte bieten soll. Der Formel heißt: Je mehr Anlehnung an EU-Regeln, desto mehr Zugang zum europäischen Markt - und umgekehrt. Das gilt etwa für Sozial- und Umweltvorschriften, neue Klimaregeln oder das Verbot von Staatshilfen für Unternehmen. Die EU fasst diese Forderung in dem Begriff "level playing field" zusammen - faires Spielfeld.
Gleichzeitig will Brüssel das neue Abkommen mit Sanktionen ausrüsten und als letzte juristische Instanz den Europäischen Gerichtshof über Konflikte entscheiden lassen. Üblicherweise sind Freihandelsverträge, wie etwa der mit Kanada oder Japan, ziemlich zahnlos, wenn eine Seite die Regeln bricht. Die EU zeigt, was sie hier erwartet, wenn sie den Vertrag mit dem Königreich "scharf" machen will.
Nur ein kleines Freihandelsabkommen
Boris Johnson wird in dieser Woche ein einfaches Freihandelsabkommen fordern, ähnlich wie CETA zwischen der EU und Kanada. So etwas könnte als Blaupause aus Fertigteilen zusammen gesetzt werden. Nach diesem Vorbild ist der Handel mit Gütern zwar quasi zollfrei, aber es würde Grenzkontrollen geben. Und der für die Briten so wichtige Dienstleistungssektor - Versicherungen oder Finanz- und Beratungsfirmen - bliebe außen vor. Dahinter verbirgt sich der Wunsch des britischen Premiers und seiner Brexiteers, sich so weit wie möglich von europäischen Vorschriften zu befreien und der EU durch Deregulierung Konkurrenz zu machen.
Großbritannien will darüber hinaus keine Assoziierung mit den EU-Agenturen für Medikamente, Luftfahrt oder Lebensmittelkontrolle. Man will unabhängige Behörden aufbauen, die dann auf der Basis von "regulatorischer Kooperation" mit der EU zusammenarbeiten. Sie müsste wiederum britische Vorschriften als gleichwertig anerkennen, was die Tür für endlose Konflikte öffnet.
Ähnliches gilt für den Finanzplatz, die Londoner City. Ihr Zugang zum großen europäischen Markt müsste gesondert ausgehandelt werden, nach sogenannten Äquivalenz-Kriterien. Allerdings können die Europäer von Fall zu Fall entscheiden, inwieweit sie britische Finanzmarktgesetze für gleichwertig halten. Und eine erteilte Genehmigung kann jederzeit wieder entzogen werden. Die City trägt aber zu über 10 Prozent zum britischen Staatshaushalt bei - ihr Zugang zum EU-Markt stünde damit auf schwankendem Boden.
Das britische Finanzministerium hat ausgerechnet, dass die Wirtschaft des Landes mit diesem Post-Brexit-Plan in den nächsten 15 Jahren um knapp 5 Prozent schrumpfen würde. Auch die Bank of England warnt, dass Boris Johnsons Deal der britischen Wirtschaft schaden würde. Sie hat errechnet, dass das Bruttonationaleinkommen bis Ende 2022 um 20 Milliarden Pfund sinken würde. Ob und wie sich diese Warnungen der eigenen Ökonomen in der britischen Verhandlungsstrategie niederschlagen werden, ist noch völlig ungewiss.
Klar ist dagegen, dass London jedes Abkommen ablehnen wird, in dem der Europäische Gerichtshof über künftige Streitigkeiten entscheiden würde. Das ist für Boris Johnson eine rote Linie. Es wird erneut ein bitterer Kampf um Kompromisse werden.
Wer ist stärker?
Mantra der Europäer war immer, dass der Brexit beiden Seiten schadet, den Briten aber mehr als der EU. Die Europäische Union exportiert nur knapp sechs Prozent ihrer Güter auf die Insel, Großbritannien aber verkauft 47 Prozent seiner Güter nach Europa. Die Europäer sitzen also bei den Verhandlungen am längeren Hebel, sagt Maria Demertzis vom Wirtschaftsforschungsinstitut Bruegel, weil hier 27 Länder gegen eins stehen.
Und sie sieht zunächst den Handel auch als schwierigstes Thema. "Wird es Zölle geben, oder nicht? Wie wird der Austausch von Waren und Dienstleistungen laufen? Aber jenseits davon gibt es eine Riesendiskussion über die Gleichartigkeit von Regeln und Vorschriften. Großbritannien will davon abweichen, das ist einer der Gründe für den Austritt. Sie sagen, EU-Regeln sind zu restriktiv. Aber wie weit sie sich entfernen dürfen muss verhandelt werden - das wird das große Gegengeschäft".
Andererseits haben die EU-Mitgliedsländer unterschiedliche Interessen, und es wird nicht leicht, sie in dieser zweiten Brexit-Runde zusammenzuhalten. Und emotionale Themen wie die Fischerei können für zusätzlichen Streit sorgen. Am Ende des Jahres könnte es also wieder auferstehen - das Gespenst vom harten Brexit ohne Vertrag zwischen beiden Seiten. Es wird einmal mehr ein spannendes Jahr für alle Beteiligten.