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Politik

GB, bitte melden!

Jens Jensen mit Agenturen
12. September 2019

Was tut man, wenn alles gesagt ist - und die Uhr läuft? In London dürfen die Parlamentarier jedenfalls vorerst nicht mehr mitreden. In Brüssel hofft man auf ein klärendes Wort, will heißen: ein neues Brexit-Angebot.

Belgien EU Brexit David Sassoli
EU-Parlamentspräsident David Sassoli wartet auf einen neuen FunkspruchBild: Getty Images/AFP/J. Thys

Entweder hört man nichts aus London - oder nur das Falsche. So hätte es Michel Barnier sagen können. Doch der Franzose, der für die EU die Brexit-Verhandlungen führt, muss seine Worte wägen und offiziell zitierfähig formulieren. Diesmal spricht er nicht höchstselbst, sondern lässt seine Gedanken durch David Sassoli mitteilen.

Der, seit zwei Monaten Präsident des Europäischen Parlaments, verkündet: Die EU habe weiter keine plausiblen Vorschläge erhalten, um den Backstop - also den größten Stein des Anstoßes im Ringen um ein Brexit-Abkommen - zu ersetzen. Die Europäische Union sei aber weiter bereit, "jeden konkreten und rechtlich umsetzbaren Vorschlag des Vereinigten Königreichs objektiv zu prüfen".

Sassoli kündigt an, kommende Woche würden die Abgeordneten in Straßburg eine Resolution verabschieden, die klarmache, dass es keine Vereinbarung ohne Backstop geben werde: "Das könnte nicht klarer sein", so der Italiener.

Es ist ...Bild: Getty Images/AFP/J. Thys

Der Backstop ist Teil des mit der früheren Premierministerin Theresa May ausgehandelten Austrittsvertrags - der im britischen Parlament kein Wohlgefallen fand. Diese Auffanglösung für Nordirland besagt: Großbritannien bleibt, solange es keine andere Vereinbarung gibt, in einer Zollunion mit der EU, um Grenzkontrollen auf der irischen Insel zu verhindern. Für Nordirland, obschon Teil des Vereinigten Königreichs, würden weiter die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts gelten.

Getrennt von (Tisch und) Bett?

Den Brexit-Hardlinern in London ist der Passus ein rotes Tuch: Sie fürchten, nach der Scheidung doch noch am Tisch der EU zu sitzen, quasi in einer Zwangsbeziehung gefangen zu sein. Auch könnte der Backstop die Freiheit der Briten beschneiden, mit anderen Staaten der Welt Handelsabkommen zu schließen.

... zum Haare-RaufenBild: Getty Images/AFP/J. Thys

So weit, so bekannt. Wirklich neu ist eigentlich nur, dass das Parlament an der Themse nunmehr auf Geheiß von Premier Boris Johnson seine Zwangspause angetreten hat. Und dass die Schreckensszenarien für den Fall eines harten Brexits, die schon vor Wochen aus Downing Street an die Presse gelangten, jetzt offiziell bestätigt sind.

Das Papier mit dem Decknamen "Mission Goldammer" hat es durchaus in sich - jedenfalls, wenn man sich erinnert, dass dieser Singvogel (im Volksmund: "Wie, wie, wie hab ich dich liiieb") in der Kolonialgeschichte Großbritanniens eine traurige Rolle spielte: Im fernen Neuseeland sollten die verschifften Ammern lästige Insekten jagen. Doch etwa die Hälfte der Vögel verendete auf der Überfahrt. Die anderen sangen, fraßen aber keine Insekten.

Zum Schweigen verdonnert: Parlament in Westminster (Archivbild)Bild: AFP/T. Akmen

Boris Johnsons Vize, Michael Gove, beschwichtigte rasch, das Papier sei lediglich ein Szenario für den schlimmsten Fall. Die wahrscheinliche Entwicklung werde ganz anders verlaufen. Doch wie genau, das weiß derzeit niemand. Und die Briten mit ihrer erkalteten Liebe zu Europa schweigen einstweilen. Das Verhältnis zwischen London und Brüssel werde "nie wieder sein wie früher", prophezeit der Unterhaus-Abgeordnete Andrew Bridgen. Inzwischen sei die Uhr abgelaufen und Johnson habe nur noch "sehr wenige Optionen", sagte der Pro-Brexit-Tory der Deutschen Welle.

Gefechte um die Deutungshoheit

Während die Uhr zumindest nach bisherigem Stand noch bis zum 31. Oktober tickt, beginnen schon die Gefechte um die Deutungshoheit für den Fall eines harten Brexits. "Der Resolution zufolge läge ein No-Deal-Austritt allein in der Verantwortung des Vereinigten Königreichs", sagt EU-Parlamentspräsident Sassoli mit Blick auf die noch zu verabschiedende Erklärung. Neue Vorschläge aus Brüssel gebe es bisher nicht - die Briten hätten keine Alternativen unterbreitet, die "rechtlich glaubwürdig und funktionsfähig" wären.

Wollen hörbar bleiben: Pro-EU-Demonstranten in LondonBild: AFP/D. Leal-Olivas

Geht es nach den Volksvertretern für 500 Millionen Europäer, könnte die Sanduhr sogar noch einmal umgedreht werden: Das Europaparlament sei zu einer weiteren Verschiebung des Austrittsdatums bereit, falls London dafür gute Gründe angebe, so Sassoli, beispielsweise das Ziel, einen harten Schnitt zu vermeiden, oder die Absicht, Neuwahlen abzuhalten. Auch in dieser Richtung tue sich derzeit jedoch nichts. Seitens der Briten gebe es "keinerlei Initiative, die die Verhandlungen wieder eröffnen könnte".

Kritik mit Komplimenten

Man hört also nichts aus Downing Street. Und aus dem Unterhaus erzwungenermaßen auch nicht - was Sassoli besonders betrübt. Die Abgeordneten in Westminster in den Zwangsurlaub zu schicken, hält der Italiener für eine völlig falsche Entscheidung. Ganz präsidial indes lässt er noch ein kleines Kompliment in seine Kritik einfließen: "Parlamente sollten immer offen sein, wenn sie über das Schicksal großer Nationen wie des Vereinigten Königreichs zu entscheiden haben."

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