Brexit-Tagebücher: Immer die Ruhe bewahren
16. Oktober 2018Es war ein sonniger Sonntag in Brüssel, als die Nachricht von einer möglichen Brexit-Einigung hereinplatzte. Ein paar Dutzend Korrespondenten verließen ihre Gärten und Cafétische und versammelten sich in der EU-Kommission. Die Stimmung war erwartungsvoll: "Gottseidank, jetzt ist es bald vorbei."
Dann aber traf am Nachmittag der britische Brexit-Minister Dominic Raab ein, und nach einer Stunde war man wieder bei Null. Was war passiert? Er hatte einen Blick auf die technische Einigung der Unterhändler geworfen, ein paar Worte mit Michel Barnier gewechselt, "Nein" gesagt und war wieder abgefahren.
Das Problem war und ist Nordirland. Die EU will um jeden Preis verhindern, dass dort eine harte Grenze entsteht, um das Karfreitagsabkommen zu bewahren. Und das ist schwieriger, als es scheint, weil man dafür in die Tiefen von sektiererischer Lokalpolitik und ideologischem Brexitismus eintauchen muss, um den Abgrund zu begreifen, den es zu überbrücken gilt.
Am Verhandlungstisch sitzen nüchterne und ziemlich schlaue Beamte. Die Teams beider Seiten hatten so lange an der komplizierten Rechtssprache im Austrittsvertrag herumgeschraubt, bis am Ende eine ganz undramatische und für Außenstehende kaum verständliche Beschreibung für den sogenannten Backstop gefunden war, die Rückversicherung gegen eine Nordirland-Grenze. Aber die Politik triumphierte über die Vernunft, und der Deal wurde abgeblasen. Es war die Verschwendung eines schönen Sonntags.
Theresa May als Kriegerin
Theresa May hat es an allen Fronten schwer, wie sogar ihre Gegner zugeben. Als sie am Montag im Parlament erschien, benahmen sich die Abgeordneten wie eine besonders bösartige Schulklasse. Als sie ihre Erklärung mit: "Wir nähern uns der Endphase der Brexit-Verhandlungen" eröffnete, schlug ihr höhnisches Gelächter entgegen. Und die nächste Woge brandete auf, als May erklärte, man müsse "ruhig bleiben und einen kühlen Kopf" bewahren.
Danach kämpfte sie tapfer zwei Stunden lang, um zu erklären, was der "Backstop zum Backstop" für Nordirland ist und warum Großbritannien in der Zollunion bleiben müsse, um eine harte Grenze zu vermeiden. Natürlich würde das nicht endlos dauern, auch wenn es kein klares Enddatum gibt. Und natürlich würde sie niemals Sonderregelungen für Nordirland zustimmen, wegen der Einheit des Vereinigten Königreichs. Und irgendwann, irgendwie würde Großbritannien seine eigenen Handelsabkommen abschließen können.
Das kam auf keiner Seite des Hauses gut an. Die Brexiteers tobten gegen den Verrat, und die EU-Freunde forderten ein zweites Referendum. Die Nordiren drohen mit dem No-Deal-Brexit und verweigern jeden Kompromiss. Die Schotten sind entweder sowieso gegen den Brexit oder zumindest gegen den der Premierministerin. Und Labour kündigte an, man werde sie einfach rundum niederstimmen. Mitten im Radau ihrer Gegner war Theresa May ganz allein.
Um die Sache noch schlimmer zu machen, schrieb ihr früherer Berater Nick Timothy einen Artikel in der "Sun" und fordert die Premierministerin auf, "ihre innere Boudicca" zu entdecken: "Es ist an der Zeit für Theresa May, all ihren Widerstandsgeist zu mobilisieren und der EU die Stirn zu bieten." Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Boudicca eine keltische Königin war, die 60 nach Christus einen Aufstand gegen die römischen Besatzer anführte. Leider ging die Sache schief, und die Römer gewannen die Schlacht. Boudicca soll sich am Ende das Leben genommen haben.
Die Katze im Sack kaufen
David Davis hat sich zum Vorkämpfer für einen knackigen Hau-Ruck-Brexit entwickelt. Dabei hat er ganz vergessen, dass er bis vor kurzem noch selbst Brexit-Minister war und sogar im vergangenen Dezember schon einen Backstop für Irland unterschrieben hatte. Ganz unbelastet von der Vergangenheit schießt er jetzt gegen Theresa May und ihren Einigungsvorschlag, weil er keine Garantie für das künftige Wirtschaftsverhältnis mit der EU bieten würde.
"Das ist eine 39 Milliarden Pfund teure Katze im Sack", klagte Davis im Interview mit ITV, und er wolle aus dem Scheidungsvertrag keine Alimente für Nichts zahlen. Das allerdings liegt in der Natur der Sache: Nach einer Scheidung zahlt man für das, was man für die Fehler der Vergangenheit hält.
Davis fordert auch ein klares Enddatum für den Verbleib des Königreiches in der Zollunion. Und insgesamt sieht er die Vorzüge des Brexit dahin schwinden, weil man "keine Handelsabkommen mit dem Rest der Welt" abschließen könne. Noch mal zum Mitschreiben: Großbritannien hat durch seine EU-Mitgliedschaft bereits Handelsverträge mit den meisten Ländern der Welt. Und bisher hat noch niemand den Briten nach dem Brexit bessere Konditionen angeboten. Aber hört man hier einen defensiven Unterton, falls der Brexit weniger glorreich wird als versprochen?
Ihrer Majestät nutzlose Opposition
Tony Blair nennt den Brexit "ein Dilemma mit großem D". Die Probleme liegen in der Tatsache des Austritts, sagt der frühere Labour-Chef, und er rät seiner Partei, gegen Theresa Mays Einigung mit der EU zu stimmen. Außerdem wirbt Blair für ein zweites Referendum, damit die Bürger selbst entscheiden könnten.
Der gegenwärtige Parteichef allerdings sitzt beim Brexit weiter auf dem Zaun. Jeremy Corbyn würde vielleicht ein zweites Referendum befürworten oder vielleicht für Mays Deal stimmen. Er ist teils gegen den Brexit und teils dafür, weil er die EU noch nie mochte. Jetzt steht Blair auf und versucht, Labour eine klare Linie zu verpassen. Aber dafür ist er leider der falsche Mann. Die Zeit würde wohl noch reichen, um vor dem 29. 3. 2019 ein zweites Referendum abzuhalten. Aber Tony Blair kann die Bewegung nicht anführen, denn seine Glaubwürdigkeit wurde schon vor Jahren zum Opfer der Massenvernichtungswaffen, die Saddam Hussein nicht besaß.
Einen Frosch langsam erhitzen
Das erste Opfer des Brexit in Brüssel war Ivan Rogers. Die Verhandlungen hatten kaum begonnen, als die Regierung in London ihren EU-Botschafter rauswarf. Rogers galt als bester Europakenner unter den britischen Diplomaten. Er neigt nur dazu, die Wahrheit vor Fürstenthronen auszusprechen.
Jetzt erläuterte er in einer Rede im Trinity College in Cambridge seine Sicht auf den Stand des Brexit, und die war ernüchternd: "Sich mit der Realität der EU nicht auseinanderzusetzen hat wirklich geschadet. Die EU hat seitdem den Frosch langsam erhitzt, was das Verfahren angeht, die Abläufe und die Substanz. Alles hat sich in eine Richtung bewegt".
Rogers zerschmetterte auch Theresa Mays Lieblingsillusion: "Bei den wirtschaftlichen Kernelementen von Chequers (Mays Plan für das künftige Verhältnis) liegt die Chance bei Null, dass die EU dem zustimmt."
Und schließlich glaubt Rogers, dass die Übergangsperiode in jedem Fall verlängert werden muss. "Die EU ist nicht in Eile, sie hat keine Probleme mit dem vereinbarten Status Quo-Übergang, mit allen Pflichten und keinen Rechten der Mitgliedschaft für Großbritannien."
An dem Punkt stecken sich die Brexiteers die Fingen in die Ohren und rufen: "Wir können dich nicht hören!"
Brexit-Zitat der Woche
Während die Brexit-Verhandlungen nicht vorankommen, werden die Beleidigungen in allen politischen Lagern immer phantasievoller. Kronanwalt und Aktivist Jo Maugham QC tweetete: "Brexit ist wie ein Befall von Holzwürmern, die den Stoff unserer Demokratie zerfressen". Man sieht den Staub förmlich fallen.