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PolitikEuropa

Brexit unterm Weihnachtsbaum

24. Dezember 2020

An Heiligabend haben sich die EU und Großbritannien nach zähem Ringen auf einen Handelsvertrag geeinigt. Das nächste Jahr fängt weniger chaotisch an. Erleichterung auf beiden Seiten. Aus Brüssel Bernd Riegert.

UK Premier Boris Johnson
Erleichterung in London: Premier Boris Johnson reagiert auf das Handelsabkommen mit der EUBild: Pippa Fowles/Xinhua/imago images

Dem Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, und dem Brexit-Verhandler der Briten, David Frost, mag an diesem Heiligabend ein stilles "Hosianna" entfahren sein. Ein religiös verklärtes Jubeln darüber, dass nach fast einem Jahr ermüdender Verhandlungen doch noch eine Einigung steht.

Genau eine Woche bevor der umfassende Handelsvertrag zwischen der Europäischen Union und ihrem ehemaligen Mitglied Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland in Kraft treten soll, liegt das angeblich 2000 Seiten starke Werk vor. "Die Uhr tickt nicht mehr", sagte EU-Verhandlungsführer Barnier. "Das ist ein Tag der Erleichterung", aber auch ein trauriger Tag. Großbritannien habe selbst gewählt, auf die Vorteile einer Mitgliedschaft zu verzichten. "Vieles wird sich am 1. Januar ändern", betonte Barnier.

Die letzten Tage und Nächte hatten die Unterhändler fast schon verzweifelt um einen Kompromiss bei den Fischereifragen gekämpft. Der britische Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen telefonierten mehrfach, um die letzten politischen Stolpersteine aus dem Weg zu räumen.

Oft hatte es so ausgesehen, als würde Großbritannien seine übergangsweise Mitgliedschaft im Binnenmarkt der EU mit einem abrupten Absturz in die wenig vorteilhaften Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) beenden. Das Jahresende stand als allerletzte Frist fest, weil sich Premierminister Johnson trotz der Pandemie und der größten Wirtschaftskrise seit 75 Jahren geweigert hatte, die Übergangsperiode zu verlängern, was die EU angeboten hatte.

"Faires Abkommen"

Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sagte in Brüssel, das Abkommen sei "gut, fair und ausbalanciert". Die Interessen der EU würden geschützt, aber der Vertrag sei auch gut für die Briten. "Dieses Abkommen wird Geschichte schreiben", zeigte sich von der Leyen überzeugt. Und auch sie war nach dem zähen Feilschen der letzten Tage gelöst und erleichtert. "Endlich können wir den Brexit hinter uns lassen." Von der Leyen ist über Weihnachten vor allem mit der Vorbereitung der EU-weiten Impfkampagne gegen COVID-19 beschäftigt, die am Sonntag beginnen soll.

Frohe Botschaft an Heiligabend: EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Bild: Francisco Seco/REUTERS

Das Timing für die Einigung könnte einem Handbuch für Öffentlichkeitsarbeit entstammen, meinen EU-Diplomaten in Brüssel, die das Verhandlungsgeschacher in den letzten Tagen zunehmend entnervt mitverfolgt hatten. Denn auch sie mussten tagelang in Bereitschaft bleiben, um einen Deal im Namen der EU-Mitgliedsstaaten zu akzeptieren. Die Einigung zu Weihnachten, dem christlichen Fest der Freude über die Geburt des Heilands, kann der britische Premierminister seinen Landsleuten als Weihnachtsgeschenk verkaufen.

Zusätzlich zum Reiseverbot und zum Transportchaos, das nach dem Auftauchen eines mutierten Coronavirus in Südengland entstanden ist, und dem harten Lockdown in weiten Teilen Großbritanniens wäre ein freier Fall aus dem Binnenmarkt der EU wohl zu viel gewesen. Ein "No-Deal" hätte die Briten vier Prozent Wirtschaftswachstum in den nächsten 15 Jahren gekostet, schätzte die britische Haushaltskontrollbehörde.

Johnson will Chancen nutzen

Der britische Premier Johnson zeigte sich in London sehr zufrieden. Er habe das Versprechen eingehalten, das er Anfang des Jahres nach dem Brexit gegeben habe. Man habe ein Freihandelsabkommen erreicht, mit dem Großbritannien seine Souveränität bewahren könne.

Boris Johnson: Kaum zu erkennen, aber auf seiner Krawatte sind viele kleine Fische - ein Symbol für UnabhängigkeitBild: Paul Grover/REUTERS

Johnson versprach seinen Landsleuten, die Weihnachten wegen Corona wie der Rest Europas unter starken Einschränkungen feiern müssen, dass es bald aufwärts gehen und Großbritannien prosperieren werde. "Wir sind eine neu unabhängig gewordene Nation und jetzt ist der Moment, das Beste daraus zu machen", sagte Johnson. Die EU werde aber immer ein Freund bleiben. 

Zollfreier Handel bleibt

Die EU und Großbritannien werden nach dem jetzt geschlossenen Abkommen weiter zollfrei ohne Mengenbeschränkung Waren austauschen. Anders als im bisherigen Binnenmarkt werden die Waren an den Grenzen aber Kontrollen unterworfen, die durch gemeinsame Verwaltungsvorschriften so gering wie möglich ausfallen sollen. Diese Handelsvereinbarung ist die weitreichendste mit irgendeinem Staat außerhalb der EU.

Abgekämpft, aber erleichtert: EU-Unterhändler BarnierBild: Francisco Seco/REUTERS

Die staatliche deutsche Wirtschaftsförderungsgesellschaft "GTAI" schreibt in einer Analyse, dass der Handel zwischen Großbritannien und der EU auch schon vor der Pandemie im vergangenen Jahr erheblich geschrumpft sei. Im ablaufenden Jahr ist der Handel mit Autos, Maschinen, Chemikalien und Arzneimitteln durch die Kombination aus Brexit und Corona noch einmal sehr hart getroffen worden. "Eine Erholung ist nicht in Sicht", heißt es von den deutschen Wirtschaftsförderern.

Gemeinsame Regeln

Die Marktzulassung für eine Ware in Großbritannien reicht künftig nicht mehr für den Export auf den europäischen Kontinent aus. Beide Seiten vereinbarten ein sogenanntes faires Spielfeld, das gleiche Wettbewerbsbedingungen erzeugen soll. Die EU und Großbritannien müssen sich bei staatlichen Subventionen, Umweltauflagen und beim Arbeitsschutz im Prinzip an die gleichen Regeln halten. Großbritannien ist aber nicht mehr verpflichtet, automatisch alle Regulierungen aus Brüssel zu übernehmen.

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Streit wird nicht vor dem Europäischen Gerichtshof, sondern vor einem neuen Schlichtungsgremiun ausgetragen. Johnson und den Brexit-Befürwortern war dieser Punkt besonders wichtig: Kontrolle über die eigenen Gesetze und Regeln. "Take back control!" Sollte Großbritannien in Zukunft allerdings Waren verkaufen wollen, die von den Spielregeln abweichen, könnten diese von der EU mit Strafzöllen belegt werden.

Finanzbranche außen vor

Nicht im Handelsvertrag eingeschlossen sind die Finanzdienstleistungen von Banken und Versicherungen, die mit sieben Prozent einen erheblichen Anteil des britischen Bruttoinlandsprodukts (2,5 Billionen Euro) ausmachen. Finanzprodukte müssen jetzt im Einzelfall von den Aufsichtsbehörden beider Vertragspartner zugelassen werden. Um weiter in der EU ohne zu viel Verwaltungsaufwand arbeiten zu können, haben viele Banken aus London bereits Niederlassungen und Tochterfirmen in EU-Staaten aufgebaut.

Weitreichende Kooperation

Der Vertrag regelt außerdem die Zusammenarbeit der EU mit Großbritannien beim Austausch von Daten, bei der Kooperation von Sicherheitsbehörden, in der Außenpolitik, beim Klimaschutz, in der Forschung und beim Studentenaustausch. Zudem werden Transportsysteme, Luft-, See- und Eisenbahnverkehr sowie Personenkontrollen und Aufenthaltsrechte der Bürgerinnen und Bürger geregelt.

EU-Bürger sollen künftig in Großbritannien bei der Einwanderung behandelt werden wie alle übrigen Angehörigen von Drittstaaten. Das gilt auch umgekehrt. Für die Menschen, die bereits jetzt in der EU mit britischem Pass leben oder Menschen aus der EU, die in Großbritannien leben, gelten Ausnahmeregelungen und Übergangsfristen.

Am Ende war es der Fisch

Der letzte Stolperstein der zähen Verhandlungen waren die Fische. Großbritannien bestand auf der Souveränität über sein Gewässer. Die EU, besonders die Nordseeanrainer Niederlande, Belgien, Deutschland und Frankreich, verlangten Zugang zu den Fischgründen vor der britischen Küste und boten im Gegenzug Marktzugang für britische Fischexporte an. Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiss in der Mitte. Großbritannien erhält Ausgleichszahlungen für 25 Prozent der gefangenen Fischmenge. Die EU-Trawler dürfen noch für mindestens fünfeinhalb Jahre vor England fischen. Danach wird erneut gepokert.

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Beim Fisch und den Fangrechten ging es am Ende noch um einen Wert von wenigen hundert Millionen Euro. Das war verglichen mit den gesamten Handelsvolumen von 484 Milliarden Euro im Jahr 2019 ein verschwindend geringer Anteil. "Es ging vor allem um das politische Symbol", sagten EU-Diplomaten in Brüssel. Die Brexit-Befürworter machten an der Gewalt über die Fische die Souveränität des Königreichs fest, wie Premier Johnson immer wieder erklärt hatte. "Großbritannien kann nicht das einzige Küstenland der Welt sein, das keine Kontrolle über seine Gewässer hat", so Johnson.

Merkel lobt den Vertag

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die noch wenige Tage Ratsvorsitzende der EU ist, freute sich in Berlin über den Abschluss auf den letzten Drücker. "Das Vereinigte Königreich wird wichtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Union bleiben", sagte sie.

Die deutsche Ratspräsidentschaft will jetzt dafür sorgen, dass die 27 Mitgliedsstaaten den ausgehandelten Text in den nächsten Tagen absegnen. Dann kann der Vertrag zum 1. Januar vorläufig in Kraft treten. Das britische Parlament könnte ihn noch kurz vor dem Jahreswechsel ratifizieren. Das Europäische Parlament wird dies erst im Januar nachholen.

Die Zeit für eine gründliche Prüfung der Vereinbarung vor Silvester reiche nicht mehr aus, hatte das Parlament beschlossen. Der Brexit-Beauftragte des Europäischen Parlaments, der deutsche Abgeordnete David McAllister (CDU), schrieb auf Twitter: "Wir stellen damit unsere künftige Partnerschaft auf eine solide und rechtlich abgesicherte Grundlage."

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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