Brexit: wieder nichts!
16. Oktober 2019Am Ende stieg die Spannung schier ins Unermessliche. Die Beobachter in Brüssel hatten seit dem Beginn der Brexit-Verhandlungen am Wochenende im sogenannten Tunnel schon ein kurioses Wechselbad der Gefühle erlebt. Am Ende war die Luft raus und es blieb nur noch eine Reaktion auf die plötzliche Absage: Okay, dann eben nicht.
Es wird was - es wird doch nichts
Während sich die Unterhändler langsam und beharrlich durch das unwegsame Gelände der Brexit-Kompromisse vorwärts robbten, drangen Informationen nur in Bruchstücken an die Presse. Gespräche im Tunnel bedeutet, dass es keine Presseunterrichtungen gibt, keine Stellungnahmen oder Erklärungen. Eigentlich weiß man also nichts - außer dass häppchenweise Informationen von den Diplomaten interessierter Seite als Dauertropf nach draußen "geleakt" werden.
Sah es also am Sonntagabend noch so aus, als ob beide Seiten weit auseinander seien, schien man sich am Montagabend angenähert zu haben und am Dienstag brach schließlich fast euphorischer Optimismus bei den Beobachtern aus: Eine Einigung schien zum Greifen nahe. Dann fehlten doch wieder noch Einzelheiten - bei den Schreibern von Fernsehserien nennt man das einen Cliffhanger.
Am frühen Abend des Mittwoch dann gaben Angela Merkel und Emmanuel Macron in Toulouse eine Pressekonferenz zu anderen Themen, aber der Präsident sagte zum Brexit: "Ich glaube ein Deal wird ausformuliert und dass wir ihn morgen bestätigen können." Während die Bundeskanzlerin in der ihr eigenen Form der Untertreibung erklärte, "schlechtere Nachrichten könnten aus Brüssel kommen".
Die Zeit reicht nicht mehr
Kurz darauf unterrichtete der EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Botschafter der 27 anderen Mitgliedsländer über den Stand der Gespräche. Die Liste der strittigen Punkte zwischen beiden Seiten sei weitgehend ausgeräumt, so hieß es. Für alle Fragen habe man Lösungen gefunden außer für die Behandlung von künftigen Unterschieden bei der Mehrwertsteuer in Nordirland und dem britischen Festland. Was allerdings nur ein weiteres technisches Problem sei, über das unterdessen noch weiter verhandelt werde.
Schwierigkeiten aber machte den Botschaftern die Tatsache, dass am Mittwochabend noch kein juristischer Vertragstext vorlag. Den hätten sie über Nacht in ihre Hauptstädte schicken müssen, damit die Regierungschefs dort wenigstens ein paar Stunden Zeit hätten, um den Vertragsentwurf vor Beginn des Gipfels zu lesen und zu Hause zu besprechen. Der britische Premier hatte seine Zugeständnisse an die EU dermaßen lange aufgeschoben, das am Ende die Zeit für die 27 anderen nicht mehr reichte, den Deal abzuschließen.
Was steht drin?
Die Einzelheiten der möglichen Vereinbarung sind noch nicht bekannt. Allerdings weiß man über den groben Rahmen, dass das Problem der irischen Grenze durch eine intellektuelle Verrenkung gelöst werden soll. Nordirland würde danach zwar mit Großbritannien aus der EU-Zollunion aussteigen - das ist unabdingbar für Boris Johnson um seine Brexiteers an Bord zu bekommen. Aber das gilt nur auf dem Papier. Faktisch würde die Provinz weiter unter EU-Regeln bleiben, damit die gefürchtete harte Grenze zur Republik Irland vermieden werden kann.
Die EU-Außengrenze würde demnach irgendwo in der Irischen See verlaufen - fiktiv - und die nötigen Zoll- und anderen Grenzkontrollen müssten in britischen und nordirischen Häfen stattfinden. Die Durchführung ist hier kompliziert, denn die EU muss mit den Briten dafür nicht nur die Durchführung der Kontrollen vereinbaren, es geht um die Weiterleitung von Geldern, Klageinstanzen im Streitfall und vieles mehr.
Im Prinzip ist das die Rückkehr des alten Backstop, der Rückversicherung nur für Nordirland, den die EU ganz zu Beginn der Verhandlungen mit Theresa May vorgeschlagen hatte. Im Laufe der Gespräche näherte sich die britische Seite den Forderungen der EU hierzu immer weiter an. Es müsste nur noch ein schöner neuer Name für diese Lösung gefunden werden.
Geklärt wurde auch der Streit über die demokratische Zustimmung durch die Volksvertreter in Nordirland. Die EU erreichte, dass die unionistische DUP kein Vetorecht mehr haben soll. Die übrigen mehr als 500 Seiten im Ausstiegsvertrag entstammen der alten Fassung, die seit dem November 2018 vorliegt. Neu verhandelt wurde nur das Kapitel über die irische Grenze.
Wo liegt jetzt das Problem?
Das Problem liegt in London. Die EU-Regierungschefs verlangen vom britischen Premierminister, dass er beim Gipfeltreffen in Brüssel am Donnerstag die notwendige Unterstützung im Parlament vorweisen kann, um den Deal durchzubringen. Sie wollen nicht noch einmal ein Debakel wie bei seiner Vorgängerin erleben, wo der Vertrag dreimal bei der Abstimmung im Unterhaus durchfiel.
Das aber macht Boris Johnson Schwierigkeiten. Seit Montag verhandelt er immer wieder mit der nordirischen DUP, die sich bis zuletzt verweigerte. Gerüchteweise würde sie sich mit großen Geldsummen kaufen lassen, aber bis zuletzt blieb das unbestätigt. Wenn die DUP Nein sagt, dann könnten auch die harten Brexiteers wieder störrisch werden. Aus ihren Reihen waren zuletzt versöhnliche Töne gekommen. Und schließlich ist es dem Regierungschef noch nicht gelungen, die rund 20 Tory-Rebellen wieder ins Boot zu holen, die ihm September eine Abstimmungsniederlage herbei führten und die deshalb aus der Partei flogen. Auch von der Labour-Partei ist nur eine kleinere Zahl von Überläufern zu erwarten- offiziell hat die Parteiführung dem "Tory-Brexit" eine Absage erteilt. Kurzum hat Boris Johnson die 50-60 Stimmen nicht beisammen, die er außer seinen Partei-Loyalisten für eine Mehrheit braucht.
Abgesehen davon ist völlig offen, was das Unterhaus am Sonnabend bei seiner Sondersitzung noch versuchen könnte, um Boris Johnsons Pläne zu durchkreuzen. Derzeit sieht es so aus, als ob kaum ein Weg daran vorbei führte, dass er die EU um eine Verlängerung bittet. Dann muss er die Tatsache wegerklären, dass er seine großen Schwüre vom Brexit am 31. Oktober - auf Leben und Tod - nicht einhalten kann. Aber das dürfte dem Premier noch am leichtesten fallen.