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Politik

Briten bestimmen Brexit-Kurs

12. Dezember 2019

Ein schneller Brexit mit Premier Johnson oder neue Verhandlungen mit Labour-Chef Corbyn? Vor dieser Wahl stehen Großbritanniens frustrierte Wähler. Womöglich gibt es aber auch ein erneutes Patt. Aus London Bernd Riegert.

Großbritannien Parlamentswahlen
Stimmabgabe als Show: Premier Johnson zeigte sich mit Hund Dilyn den Kameras am MorgenBild: Reuters/H. Nicholls

Die Wettervorhersage war nicht gut für den Wahltag im Vereinigten Königreich. Regen, böiger Wind, Temperaturen um die fünf Grad Celsius. Es ist die erste Wahl im ungemütlich grauen Monat Dezember seit fast 100 Jahren. Winterwahlen sind unbeliebt, weil viele Wählerinnen und Wähler lieber zuhause bleiben und den Weg in die Wahllokale scheuen. Doch diesmal ist vieles anders. Mit der kurzfristig angesetzten Wahl zum Unterhaus mit seinen 650 Sitzen will sich der konservative Premierminister Boris Johnson endlich eine Mehrheit für den Brexit-Vertrag verschaffen, um am 31. Januar die Europäische Union verlassen zu können. "Lasst uns den Brexit durchziehen!" war die simple Wahlkampfparole des unerschütterlich optimistischen Boris Johnson. Der Premier verspricht eine glorreiche Zukunft ohne EU, einen Aufschwung für Großbritanniens Wirtschaft und sogar einen Babyboom nach dem Brexit.

Marcella Martins: Das ist alles UnsinnBild: DW/B. Riegert

Marcella Martins kann darüber nur lachen. Sie ist am Morgen im Nieselregen zu ihrem Wahllokal in der Vauxhall Street in London gestapft. "Das ist alles Unsinn. Es wird 20 Jahre dauern, bis wir die Folgen des Brexit verdaut haben", sagt sie, nachdem sie ihre Stimme der sozialdemokratischen Oppositionspartei Labour gegeben hat. "Ich denke, es wird sehr knapp. Wir brauchen wirklich eine Veränderung in diesem Land. Ich hoffe, Labour gewinnt und Boris Johnson selbst verliert seinen Sitz im Parlament. Das tue ich wirklich."

Wird es knapp?

Vorhersagen des Wahlergebnisses sind schwierig. Die Zeitungen melden am Wahltag, dass sich der Abstand zwischen den führenden konservativen Tories und Labour auf ein paar Prozentpunkte verkleinert hat. Vor zwei Wochen sah es noch nach einem klaren Wahlsieg für die Konservativen aus. Da aber die Sitze im Parlament nach reinem Mehrheitswahlrecht vergeben wird, ist es schwierig, die Sitzverteilung mit normalen Wählerumfragen zu bestimmen. In manchen Wahlkreisen kämpfen die Bewerber um einige Dutzend unentschiedene Wähler, die den Ausschlag geben können. Bei der letzten Wahl 2017 lagen die Umfragen falsch; die damalige Premierministerin Theresa May verlor überraschend ihre Mehrheit. Deshalb hat Boris Johnson seinen Anhängern noch einmal eingeschärft, dass es knapp wird und wirklich jede Stimme zählt. "Das ist die wichtigste Wahl unseres Lebens", wiederholt der Premier seit Tagen unablässig.

Andrew Derrick: Ich traue keinem PolitikerBild: DW/B. Riegert

"Endlich Brexit bitte"

"Ich hoffe auf eine klare Mehrheit für die Tories, diese Lähmung hält schon zu lange an", sagt Andrew Derrick vor dem Wahllokal. Er kann das ewige Gezeter um den schon vor drei Jahren schon beschlossenen Ausstieg Großbritanniens aus der EU nicht mehr hören. Andrew Derrick will endlich raus, zur Not auch ohne Abkommen mit Brüssel. Ein Sieg des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn würde nur wirtschaftliches Chaos bedeuten, meint Derrick. Boris Johnsons Versprechen von Milch und Honig, die in Britannien nach dem Brexit fließen sollen, und von mehr Krankenhäusern und Polizeiposten hält Andrew Derrick allerdings auch nicht für sonderlich glaubhaft. "Ich misstraue Politikern grundsätzlich", sagt Derrick mit einem breiten Grinsen.

Martin Clark: Nachdenken und vielleicht noch einmal wählenBild: DW/B. Riegert

"Unentschieden wäre besser"

Unklar bei dieser Wahl ist, wie viele Menschen ihr Kreuz nach taktischen Überlegungen machen werden. Um konservative Kandidaten zu verhindern, könnten liberale Wähler den stärkeren Labour-Kandidaten unterstützen. Anhänger der Brexit-Partei, die in den Umfragen weit abgeschlagen liegt, könnten die konservativen Kandidaten wählen, um Labour-Abgeordnete aus dem Amt zu hebeln. Genau dieses Spiel spielt auch Martin Clark. "Ich wünsche mir ein Parlament ohne klare Mehrheit, weil ich keinen der beiden Parteiführer mag", meint Clark vor der Grundschule in der Vauxhall Street, in der sein Wahllokal liegt. Man habe nur die Wahl zwischen zwei Übeln und sollte das kleinere wählen, ist seine Empfehlung. Mit einer weiteren Hängepartie im nächsten Unterhaus ließe sich der Brexit vielleicht noch verhindern, lautet seine Rechnung. "Ich denke, wir müssen jetzt nachdenken, verhandeln und Kompromisse finden. Das könnte natürlich bald wieder zu Neuwahlen führen, das ist mir klar."

Am Wahllokal in der Vauxhall Street herrscht reger Betrieb - rund 60 Prozent Wahlbeteiligung werden erwartetBild: DW/B. Riegert

"Es ist deprimierend"

An diesem nasskalten Tag sind sich viele Wähler einig, dass der Brexit alles andere überlagert und die "normale" Politik vernachlässigt wird. "Es gibt wichtigeres in diesem Land, die Kriminalität, überfüllte Krankenhäuser, die Armenspeisung. Armenspeisung in Großbritannien im 21. Jahrhundert, das muss man sich mal vorstellen! Es ist einfach schrecklich in diesem Land. Deprimierend!", meint die Labour-Wählerin Marcella Martins. Premierminister Boris Johnson hat versprochen, bei einem Wahlsieg den Brexit-Vertrag mit der EU, der im letzten Parlament durchgefallen war, noch vor Weihnachten verabschieden zu wollen. Das kann sich Marcella Martins nicht vorstellen. Sie hält Boris Johnson ohnehin für einen notorischen Lügner. "Der könnte ein Zwillingsbruder von Donald Trump sein. Der lügt ja auch wie gedruckt. Beide nehmen es mit der Wahrheit nicht genau. Das wird interessant, wenn ausgerechnet diese beiden nach dem Brexit einen Handelsvertrag zwischen den USA und Großbritannien austüfteln sollen. Dann stehen wir ganz hinten in der Schlange, weil wir dann sehr viel kleiner sind als Europa."

Die Wahllokale schließen um 23 Uhr MEZ. Dann gibt es erste Projektionen nach Befragungen vor den Wahllokalen. Mit ausgezählten Ergebnissen und belastbaren Zahlen wird in den frühen Morgenstunden des Freitags gerechnet.

Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union
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