Britischer Wahlkampf: Geld spielt keine Rolle
21. November 2019"Die Milliardäre und die Superreichen, die Steuerhinterzieher, die miesen Bosse und die Umweltverschmutzer - ihnen gehört die konservative Partei", donnerte Oppositionsführer Jeremy Corbyn bei der Vorstellung seines Wahlprogrammes in Birmingham. Ein Drittel der Milliardäre im Land hätten den Tories Geld gespendet. Die Labour Party dagegen sei die Partei auch der kleinen Leute. Und für sie will Corbyn Geld ausgeben, sehr viel Geld. Mehr als ein Hauch von Klassenkampf wehte durch die Veranstaltung, denn es geht um ein Programm der radikalen Umverteilung.
Ein gewaltiges Ausgabenprogramm
"Das Niveau der Armut" in Großbritannien sei furchtbar, begründet der Labour-Führer seine radikalen Ausgabepläne. So will er die Gehälter im öffentlichen Dienst pauschal um fünf Prozent erhöhen, die kostenlose Pflege im Alter einführen und ein riesiges Bauprogramm mit 100.000 neuen Sozialwohnungen pro Jahr auflegen. Darüber hinaus will Corbyn Wasserwerke, Post, Bahn und die Energieerzeugung zurückholen in die öffentliche Hand. Großbritannien liegt europaweit an der Spitze bei den Kosten für Bahnfahrten, und die Verbraucher leiden - trotz reichlichen Regenfalls - unter hohen Wasserrechnungen.
Zu den exotischeren Versprechen von Labour gehört das freie Internet für alle. Zu diesem Zweck will die Partei British Telecom zurückkaufen und die Dienste dann kostenfrei anbieten. Allerdings haben sich die internen Schätzungen, was diese Wohltat kosten könnte, inzwischen schon auf eine halbe Milliarde Pfund verdoppelt. Abgeschafft werden sollen auch die hohen Studiengebühren, die unter den konservativen Regierungen in den letzten Jahren auf rund 9000 Pfund im Jahr gestiegen waren. Die meisten britischen Studenten brauchen Jahrzehnte, um ihre Studienkredite abzuzahlen.
Das Renteneintrittsalter soll nicht weiter steigen und die Arbeitnehmerrechte verbessert werden. Das bedeutet mehr Regulierung für Scheinselbständige und den Billiglohnsektor. So will Labour etwa die sogenannten Null-Stundenverträge abschaffen, einen Auswuchs des deregulierten britischen Arbeitsmarktes. Elternurlaub dagegen soll verlängert und der Kündigungsschutz wieder besser werden.
Quasi selbstverständlich sind dabei milliardenschwere Mehrausgaben für das Gesundheitssystem NHS und die öffentlichen Schulen. Beide haben im letzten Jahrzehnt unter Kürzungen und Unterfinanzierung gelitten.
Wer soll das bezahlen?
Um dem Vorwurf der fiskalischen Haltlosigkeit zu begegnen, behauptet die Labour Party, dass all ihre Ausgabenpläne gegenfinanziert sind. So soll die Unternehmenssteuer wieder auf 26 Prozent steigen, eine Steuer für die Öl- und Gasindustrie 11 Milliarden Pfund im Jahr einbringen und Steuererhöhungen für Besserverdienende den Staatssäckel füllen. Neue Straßengebühren wiederum sollen das Geld für billige Busdienste einbringen, die von Kommunen statt privaten Anbietern organisiert werden sollen. Die Kosten für alle Re-Nationalisierungs- und Ausgabenpläne werden nach Berechnungen in britischen Medien auf über 80 Milliarden Pfund zusätzlich zum laufenden Staatshaushalt geschätzt.
Dagegen gibt sich die konservative Partei fast schon bescheiden: Ihre Wahlversprechen sind bisher nur etwa halb so teuer. Zu ihnen gehören 20 Milliarden Pfund mehr für das Gesundheitssystem, über zwei Milliarden zusätzlich für Verteidigung und 20.000 neue Polizisten, deren Gehälter noch finanziert werden müssen. Weiter wird kostenlose Kinderbetreuung für Zwei- bis Vierjährige versprochen. Rund eine Milliarde Pfund soll dafür ausgegeben werden, flächendeckend elektrische Ladestationen für Autos zu schaffen. 55 Milliarden wird es darüber hinaus im Laufe der Legislaturperiode kosten, die Sozialversicherungsgrenze anzuheben.
Allerdings wurde Premier und Spitzenkandidat Boris Johnson dabei wieder bei einer Schummelei erwischt. Er hatte am Mittwoch im Interview behauptet, diese Änderung würde jedem betroffenen Arbeitnehmer 500 Pfund zusätzlich im Jahr bescheren. Einen Tag später dann musste er sich korrigieren lassen, dass es vorläufig nur 100 Pfund mehr sind. Aber im Wettbewerb der Parteien um die besten und teuersten Wahlversprechen ist derzeit quasi jedes Mittel Recht, und auf eine Null vor oder hinter dem Komma scheint es überhaupt nicht anzukommen. Labour wie Tories versprechen jedenfalls das Ende von einem Jahrzehnt Sparpolitik und einen wahren Ausgabentornado der öffentlichen Hand. .
Wächst in Großbritannien das Geld auf den Bäumen?
Das britische Amt für Haushaltskontrolle kritisiert die Ausgabenpläne beider Parteien. Die Konservativen würden behaupten, es gebe im Haushalt ein Polster von rund 40 Milliarden Pfund für Mehrausgaben, das nach den Schätzungen der Rechnungsprüfer aber überhaupt nicht mehr existiert. Wollte sie alle ihre Wohltaten für die Wähler wirklich umsetzen, müsste auch eine Tory-Regierung zu Steuererhöhungen greifen.
Bei der Labour-Party fällt die Ermahnung durch die Rechenmeister noch etwas strenger aus: Die Behauptung, dass die gewaltigen zusätzlichen Ausgaben durch Steuererhöhungen nur für Großunternehmen und Besserverdienende finanziert werden könnten, sei irreal. Man könne solche Mehrausgaben nur durch breit angelegte Steuererhöhungen in der Fläche finanzieren, heißt es. Beide großen Parteien wollen jedenfalls die Neuverschuldung anheben, und das obwohl das Defizit für 2019/20 schon jetzt um zehn Prozent höher geschätzt wird als im Vorjahr, was unter anderem aus sinkenden Steuereinnahmen und einer verlangsamten Wirtschaftsleistung beruht.
Und was kostet der Brexit?
Was in den Berechnungen noch fehlt, sind die Kosten für den Brexit. Die Labour Party will mit der EU ein neues Austrittsabkommen mit größtmöglicher Nähe zu Zollunion und Binnenmarkt aushandeln. Damit würden sich die Kosten des Brexit deutlich verringern. Oder sie könnten - wenn das versprochene zweite Referendum für einen Verbleib in der EU ausgehen würde - ganz entfallen. Bei den Konservativen sieht es allerdings anders aus: Die Pläne von Boris Johnson kosten das Land im nächsten Jahrzehnt 70 Milliarden Pfund an entgangenem Wachstum und zusätzlicher Verwaltung, sagt das Wirtschafts- und Sozialforschungsinstitut NIESR. Die Wirtschaftsleistung werde um drei bis vier Prozent schrumpfen, und von der versprochenen Brexit-Dividende des Premierministers gebe es keine Spur.
Die Liberalen, die sich als Anti-Brexit-Partei profilieren, rechnen deshalb ganz einfach: In der EU zu bleiben spart dem Land 50 Milliarden Pfund. Genau dieses Geld wollen sie für zusätzliche soziale und Infrastruktur-Ausgaben verwenden. Für Tories und Labour aber bedeutet die reale Lage des Staatshaushalts, dass sie entweder ihre Wahlversprechen vergessen oder die Neuverschuldung drastisch erhöhen und gleichzeitig noch an der Steuerschraube drehen müssten. Und diese Fakten sind den Briten nicht ganz unbekannt: Finanzminister Sajid Javid wurde ausgelacht, als er kürzlich in einer Publikumsdiskussion behauptete, im Budget gebe es ein Polster für Mehrausgaben.