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Politik

Was wusste KZ-Wächter Bruno D.?

Tessa Clara Walther
17. Oktober 2019

Vor dem Hamburger Landgericht hat an diesem Donnerstag einer der letzten NS-Prozesse begonnen. Dem heute 93-jährigen ehemaligen KZ-Wächter wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen. Wie groß war seine Schuld?

Polen Gedenkstätte ehemaliges KZ Stutthof
Das ehemalige KZ Stutthof in der Nähe von Danzig ist heute GedenkstätteBild: picture alliance/NurPhoto/M. Fludra

"Ich werde nie vergessen, dass ich immer Hunger hatte. Tag und Nacht." Dora Roth und ihre Mutter waren zwei von schätzungsweise 120.000 Menschen, die von den Nazis während des Dritten Reichs brutal im Konzentrationslager (KZ) Stutthof interniert wurden. Mindestens 65.000 Häftlinge starben dort. Eine davon war Dora Roths Mutter. Sie verhungerte, weil sie die täglichen Brotrationen ihrer Tochter überließ.

Die Menschen im KZ Stutthof starben nicht nur an Unterernährung. Sie starben auch an Erschöpfung durch Zwangsarbeit, an Krankheiten, sie erfroren, wurden erschossen oder vergast. Bewacht wurden sie von SS-Leuten auf insgesamt 25 Wachtürmen. Von dort oben ermöglichten Glasfenster auf jeder Seite einen Blick auf das Gelände.

Vermutlich waren auch die Rauchschwaden zu erkennen, die damals aus den Schornsteinen des Krematoriums aufstiegen. Konnten die Wachleute dieses Grauen einfach übersehen? Oder trifft auch sie eine Teilschuld, da sie die Mordmaschine der Nazis mit ihrer Arbeit unterstützten?

Bruno D., damals 17 Jahre alt, soll zwischen Sommer 1944 und Frühjahr 1945 regelmäßig auf die meterhohen Türme gestiegen sein, um Wache zu halten. Als SS-Schütze trug er dazu bei, Insassen im Vernichtungslager zu bewachen. Jetzt, 74 Jahre nach der Befreiung des Lagers, muss er sich vor dem Landgericht Hamburg verantworten - wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen.

Ein Foto des Angeklagten gibt es nicht, weder aktuell noch aus seiner Zeit als KZ-Wächter. Weil Bruno D. damals teilweise minderjährig war, muss nun eine Jugendstrafkammer klären, ob er als Wachmann nicht nur Menschen davon abhielt zu fliehen, sondern auch Revolten und die Befreiung von Häftlingen verhinderte.

Die Hamburger Staatsanwaltschaft ist sich sicher, D. habe "wissentlich die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge" unterstützt. Damit sei er ein "Rädchen der Mordmaschinerie" gewesen, auch bereit, "den Tötungsbefehl umzusetzen".

Verhungert und verdurstet

Die dabei entscheidende Frage: Hat der heute 93-Jährige etwas von den Morden im Lager gewusst? In den Gaskammern von Stutthof wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hamburg 200 Menschen umgebracht. Die meisten, rund 5000 Häftlinge, starben allerdings durch Mangelernährung und Epidemien.

Das KZ in Stutthof bei Danzig im Jahr 1945. Über 65.000 Menschen wurden dort umgebrachtBild: USHMM, courtesy of Muzeum Stutthof

Bruno D. will von dem Massensterben nichts gewusst haben. Im vergangenen Jahr ließ er sich mehrmals von der Staatsanwaltschaft vernehmen. Dabei bestritt er nicht, Wachmann im KZ Stutthof gewesen zu sein. Für schuldig hält er sich nicht. Auch Beihilfe zum Mord will er nicht geleistet haben.

Gegenüber den Ermittlern betonte er laut Presseberichten, dass er zwar "zwischen den Baracken stapelweise ausgemergelte Körper" gesehen hätte, doch seien diese Menschen an einer Krankheit gestorben. Die Toten in der Gaskammer will er nicht gesehen haben.

"Was konnte ein 17-Jähriger tun?"

Gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärte Bruno D., er habe niemanden ermordet und hätte gegen die Verbrechen auch nichts tun können. "Was konnte ein 17-Jähriger, der dazu gezwungen wurde, dort Wache zu stehen, was konnte der unternehmen dagegen?", wird er in der Zeitung "Tagesspiegel" zitiert.

Der Auftakt zur Gerichtsverhandlung findet unter schwierigen Rahmenbedingungen statt. Vor Beginn musste geklärt werden, ob Bruno D. gesundheitlich überhaupt im Stande ist, am Prozess teilzunehmen. Nach mehreren Gutachten wurde er als eingeschränkt verhandlungsfähig eingestuft.

Seit der Verurteilung von John Demjanjuk 2011 werden auch KZ-Wächter und Buchhalter für Naziverbrechern verurteilt. Demjanjuk starb 2012 Bild: picture-alliance/dpa

Bruno D. stünde nicht vor Gericht, wenn es nicht in München vor zehn Jahren den Prozess gegen den früheren Wachmann John Demjanjuk im Vernichtungslager Sobibor gegeben hätte. 2011 wurde Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seitdem wird der Tatbestand 'Beihilfe zum Mord' auch auf KZ-Wächter angewandt.

Weitere 23 Verfahren

Damit reiht sich der Prozess von Bruno D. in eine Reihe von neuen Gerichtsverhandlungender letzten zehn Jahre gegen Schreibkräfte, Wachleute oder Buchhalter des NS-Regimes ein. Bereits 2018 war ein weiterer ehemaliger Wächter aus dem KZ Stutthof wegen Beihilfe zum Mord angeklagt worden. Der Prozess wurde allerdings eingestellt,  nachdem der 95-jährige Angeklagte als dauerhaft verhandlungsunfähig eingestuft wurde. 

Vor dem Landgericht in Münster musste sich 2018 ein ehemaliger Wachmann des KZ Stutthof wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 100 Fällen verantwortenBild: picture-alliance/dpa/G. Kirchner

Laut Thomas Will, stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, sind derzeit noch 23 Verfahren gegen Personal von Konzentrationslagern offen, davon zwei aus Stutthof. Nicht nur die Gerichtsprozesse, sondern auch das Wachhalten der Erinnerung an die Gräueltaten des NS-Regimes sind für viele Überlebende wichtig.

Dora Roth hat ihr Leben nach der Befreiung deshalb der Aufklärung gewidmet. Sie spricht seitdem vor allen mit Kindern über ihre grauenvollen Erfahrungen im KZ Stutthof. "Was sie uns damals angetan haben, war unfassbar. Und wer davon weiß, muss es mit anderen teilen. Das ist der einzige Weg, einen weiteren Holocaust zu verhindern."