Literatur als Comic
28. Juni 2012"Wo bin ich…? Ich habe keine Kleidung zum wechseln…nichts zu essen und zu trinken…verloren…ich bin verloren", klagt Robinson Crusoe bei strömendem Regen, zieht die Schultern ein und stapft verzweifelt über den Strand der kleinen Insel, an die er sich nach einem fatalen Schiffbruch hat retten können. Noch weiß er nicht, dass das schmale Eiland inmitten des Ozeans für Jahrzehnte sein Zuhause sein wird. Wir sind auf der vierten Seite des Literaturcomics "Robinson Crusoe", das der Brockhaus Verlag soeben auf den Markt gebracht hat, weitere 44 Seiten folgen, bis Robinson gerettet wird und wieder gen Heimat aufbricht.
Weltliteratur und Comic - geht das überhaupt? Und wenn ja, wer soll das lesen? Für welche Zielgruppe hat der renommierte deutsche Lexikon-Verlag die Reihe aufgelegt? Der literarische Comic "Robinson Crusoe" ist einer von fünf Bänden der ersten Staffel der "Weltliteratur im Comic-Format" von Brockhaus. Andere Klassiker wie "Die Schatzinsel", "Don Quijote", "Reise in 80 Tagen um die Welt" und "Odyssee" liegen jetzt auch in den Buchläden und richten sich zunächst an deutsche Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen16 und 19 Jahren. Die Titel stehen auf den Empfehlungslisten der entsprechenden Jahrgangsstufen.
Ein Angebot auch an Ältere...
Und natürlich hätte niemand vom Verlag etwas dagegen, wenn ältere, oder auch noch jüngere Leser zu den Bänden greifen würden. Man tut das nämlich durchaus mit Gewinn. Dabei hat sich Brockhaus nur eines französischen Projekts bedient. "Les Incontournables de la littérature"(zu Deutsch etwa: Die unentbehrlichen Meisterwerke der Literatur) heißt die Reihe mit 50 Bänden, die bei unseren Nachbarn erscheint. Frankreich, Belgien, die USA machen es vor, Deutschland zieht, wie so oft bei populäreren Kulturformen, nach. Literatur und Comic, das geht sehr wohl. Vor allem, wenn es so sorgfältig gestaltet und getextet ist wie im vorliegenden Fall.
"Wir möchten mit den Literaturcomics Mädchen und Jungen klassische Lesestoffe vermitteln und sie neugierig auf die Originalromane machen", sagt Brockhaus-Geschäftsführer Christoph Hünermann. Das könnte gelingen. Denn die 48 gezeichneten und getexteten Seiten sind noch nicht alles. Im Anschluss an den Comic folgt noch ein gut lesbarerer und übersichtlicher didaktischer Teil. Da erfährt der Leser etwas über den Autor Daniel Defoe, sein Werk und seinen berühmtesten Roman "Robinson Crusoe" und auch etwas über die Zeit, als das Buch über den berühmten einsamen Mann auf der Insel entstand.
Neues Publikum für Weltliteratur?
Nun könnte man einwenden, wer einmal in Robinson Crusoe als Comic geschaut hat, der ist verloren für den Originalroman. Doch das wird wohl nur auf einen verschwindend kleinen Teil der Leser zutreffen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass so mancher Leser tatsächlich neugierig wird und früher oder später zur gedruckten, bildlosen und originalen Version des Romans greift. Und man kann ja auch nicht immer nur darüber klagen, dass zu wenig gelesen wird, dass "unsere Jugend" ohne die Klassiker der Weltliteratur aufwächst. Die Bände sind ein ehrenwerter Versuch, daran etwas zu ändern. Wer sagt denn, dass man damit nicht neue Leserschichten erobert?
Für eingefleischte Comicfans, Profileser und Kenner des frankophilen und amerikanischen Markts dürften die Zeichnungen der Brockhaus-Bände enttäuschend sein. "Klassisch", "etwas bieder", "nichts, was einen umhaut", "durchschnittliches frankobelgisches Unterhaltungsmaterial", "Kunsthandwerk" - so lauten schon die ersten Urteile in Blogs und Fachzirkeln über die Art der Zeichnungen, wenn auch das gesamte Projekt als durchaus positiv beurteilt wird. Die jetzt vorliegenden fünf Bände sind einigermaßen realistisch gezeichnet, auf gestalterische Avantgarde und Experiment wird verzichtet. Text und Inhalt (natürlich auch im Zusammenspiel mit den Bilderstrecken) - das ist die Botschaft bei Brockhaus. Es soll ja in der Schule damit gearbeitet werden.
Scharfe Trennung zwischen U und E
Auch wenn einige große deutsche Feuilletons sich in den letzten Jahren kräftig dafür ins Zeug gelegt haben, Comics als ernstzunehmende Kunstgattung zu etablieren - in Deutschland ist man noch nicht so weit. Hierzulande wird die Trennlinie zwischen Unterhaltungs- und "ernster" Literatur immer noch stärker gezogen als in anderen europäischen Ländern, von den USA einmal ganz zu schweigen. Wenn nun also Daniel Defoe und Miguel de Cervantes, Robert Louis Stevenson und sogar Homer über den Umweg Comic in unsere Klassenzimmer und/oder nach Hause kommen, dann ist das unbedingt zu begrüßen. Es ist vielleicht noch ein langer Weg bis zur vollständigen Anerkennung von Comics als neunte Kunst - aber Robinson Crusoe hat schließlich auch 28 Jahre, 2 Monate und 19 Tage fast ganz allein auf seiner Insel zugebracht.
Brockhaus Literaturcomic. Bisher erschienen: Daniel Defoe: "Robinson Crusoe", Jules Verne: "In 80 Tagen um die Welt", Robert Louis Stevenson: "Die Schatzinsel", Miguel de Cervantes: "Don Quijote", Homer: "Odyssee". Alle Bände haben 58 Seiten, davon 48 Seiten Comic.