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Literatur

Buchtipps: In zehn Romanen um die Welt

Sabine Peschel
14. Oktober 2015

Man könnte sagen, es sind Bücher für eine globalisierte Welt, die DW-Redakteurin Sabine Peschel am meisten interessieren. Aber das klingt viel zu trocken für all die spannenden Neuerscheinungen, die über Grenzen blicken.

Collage Bildergalerie Buchtipps

Lieben Sie Bücher, die ihre Erzählkunst benutzen, um die gewaltigen Umbrüche in der Welt zu reflektieren? Dann finden Sie auf dieser Liste einige Titel, die Sie nicht verpassen sollten. Unsere literarische Weltreise beginnt zunächst, natürlich, in Deutschland – und zwar hochspannend – im Jahr 1944:

Andreas Kollender: "Kolbe"

Andreas Kollender: "Kolbe"

"Ich habe euch verraten, Nazischweine!" Fritz und seine Geliebte übertragen hochgeheime Akten aus Hitlers Auswärtigem Amt. Der ehemalige Diplomat schmuggelt die Kopien in die Schweiz, um sie dort amerikanischen CIA-Agenten zu übergeben. Doch, "jetzt haben sie uns", fürchtet Fritz Kolbe, als es eines Abends heftig an seine Wohnungstür klopft.

Schon auf den ersten drei Seiten von Kollenders Roman sind alle Zutaten für einen mitreißenden Krimi angelegt. Das Besondere: Fritz Kolbe gab es wirklich. Er wurde zum "wichtigsten Spion des Zweiten Weltkriegs", wie sein Biograf Lucas Delattre titelte, und starb erst 1971 in Bern. Im deutschen Außenministerium ist ein Saal nach ihm benannt. Andreas Kollender hat die Geschichte des Meisterspions mit Geschehnissen der Nachkriegszeit verknüpft und einen packenden Roman daraus gemacht. Sehr verdient steht er auf Platz vier der aktuellen Krimi-Zeit-Bestenliste der Jury um Tobias Gohlis.

Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst"

Unsere Lesereise führt nach Frankreich, in die Heimat des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers. Ein Name in einem verloren gegangenen Adressbuch ruft bei dem Schriftsteller Jean Daragane einen lang zurückliegenden Mordfall unscharf ins Gedächtnis zurück.

Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst"Bild: Carl Hanser Verlag

Doch der Kriminalfall wird bei Modiano nicht zum Krimi. Die Kunst des inzwischen 70-jährigen Autors ist es, zwischen Vergessen und Erinnern eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Zeit aufzulösen und mit fließenden Übergängen neu gegeneinander zu verschieben scheint. Die Pariser Straßen, Plätze und Cafés der 1950er- und 60er-Jahre verknüpfen sich mit halbbewusst wahrgenommenen Bildern der Gegenwart. "Abzüge von Abzügen wie bei der analogen Fotografie", schrieb Peter Körte in der FAZ. Ein Roman über den Sog verblassender Erinnerungen.

Vladimir Sorokin: "Telluria"

Mitte des 21. Jahrhunderts liegt Russland im Schlaf. Goran und Soran spielen Gott, sie gießen Blei, um achthundert heldenhafte "Zerschmetterer" zu formen. "Erschüttern müssen wir die Kremlmauern!"

Andreas Kollender: "Kolbe"

Drollig, absurd und märchenhaft beginnt Sorokins satirische Zukunftsvision, die sich in fünfzig Kapiteln entfaltet. Sie führt kreuz und quer durch Eurasien, das nach Religionskriegen, Aufständen und Revolutionen in Kleinstaaten zerfallen ist. Hoffnung verbindet sich nur mit der Bergrepublik Telluria. Tellur – in Wirklichkeit ein metallisches Element, dessen Name sich von "Telluris - Erde" ableitet – ist an diesem Sehnsuchtsort eine Glücksdroge, die den Menschen in Form von Nägeln in die Köpfe gedroschen wird.

Sorokin erzählt seine groteske Geschichte in von Kapitel zu Kapitel wechselnden Formen und Stilen: als Märchen, Gedicht, Brief, Erzählung, bürokratisches Schreiben oder Drama. Am Horizont der Zukunft entsteht ein düsteres Kaleidoskop, eine sarkastische Zeitdiagnose, und – wegen ihres erzählerischen Witzes – ein großes Lesevergnügen. (Es lohnt sich bestimmt, diese Behauptung zu überprüfen!)

Hassan Blasim: "Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak"

Welche Geschichten können aus einem Land, das sich seit Jahrzehnten im Krieg mit anderen oder sich selber befindet, noch erzählt werden? Kann von einem Land, das immer weniger als Staat funktioniert und immer mehr in Grausamkeit zerfällt, noch erträglich erzählt werden, wenn doch die Wirklichkeit immer unerträglicher wird?

Hassan Blasim: "Der Verrückte vom Freiheitsplatz"Bild: Verlag Antje Kunstmann

Ja, natürlich, es liegt immer nur am Ton. Der 1973 geborene, in Finnland lebende Hassan Blasim beweist es mit seinem Kurzgeschichtenband. In kurzen, absolut unpathetischen Sätzen erzählt er nicht nur vom Alltag und von den Traumata, die die Menschen und das Land plagen. Er spießt auch die Absurditäten des Lebens auf, erfindet Tränendrüsenstreifen und Granatenreis. In seinen Erzählungen wird gefurzt und gelächelt.

"Vielleicht sind ja der faule Zauber und die Abfassung von Geschichten auch ein trauriges menschliches Mittel, das Unbegreifliche in die Arme zu schließen", heißt es in der Erzählung "Der Geschichtenmarkt". Hier spricht wohl der Autor, und tatsächlich – ihm ist es gelungen, auch für uns das Unfassliche begreiflich zu machen.

Chigozie Obioma: "Der dunkle Fluss"

Willkommen in der nigerianischen Kleinstadt Akure.

Chigozie Obioma: "Der dunkle Fluss"

Einst war der Omi-Ala ein klarer Fluss, der von den Bewohnern Akures als Gott verehrt wurde. Doch inzwischen hat sich die einstige Quelle von Trinkwasser und Fischen "grausam" gewandelt. Sogar eine verstümmelte Frauenleiche trieb schon im Fluss, Tierkadaver liegen am Ufer. Der kindliche Ich-Erzähler und dessen Freunde gehen trotz aller Verbote zum Angeln. Bis ihnen ein abgerissener Alter begegnet, dessen mörderische Prophezeiung sich gnadenlos erfüllt.

Obiomas Roman spannt über einer realistisch geschilderten Kinderwelt ein großes afrikanisches Panorama aus Mythen und vormodernen Traditionen auf. Die Militär- und Wirtschaftspolitik Nigerias mit ihren auch schon in der Zeit vor Boko Haram desaströsen Folgen spielt ebenso eine Rolle. Wie gelungen diese verschiedenen Sphären erzählerisch durchmischt und verknüpft sind, macht den großen Reiz dieses auch für den "Man Booker Prize" nominierten Romans aus.

Ma Jian: "Die dunkle Straße"

Ma Jian: "Die dunkle Straße"

Auch durch diesen langen Roman fließt ein Fluss, der Changjiang oder Yangtse, jener Strom, der China in Norden und Süden teilt. Weit entfernt vom glitzernden Wirtschaftswunder Pekings oder Schanghais leben im Hinterland dieses Flusses Bauern, für die es seit jeher wichtigste Lebensaufgabe ist, die Generationenfolge zu sichern. Ein männlicher Nachkomme ist also Pflicht.

Die junge Meili und ihr Mann Kongzi wollen sich den Wunsch nach einem Jungen erfüllen, obwohl sie schon ein Kind haben. Der Erzähler folgt ihnen nach ihrer Vertreibung den Strom hinab. Ihr erzwungenes Schicksal wird immer unmenschlicher, je weiter sie sich den industriellen Umweltwüsten der Ostküste nähern.

Der in London lebende chinesische Autor hat für seinen Roman undercover in der Yangtse-Region recherchiert. Vieles von dem, was er in seinem Roman erzählt, kann er dokumentarisch belegen. Sein Buch schildert die Folgen der mit größter Brutalität erzwungenen Ein-Kind-Politik. Aber auch die Schönheit des Muts zum Widerstand.

Richard Flanagan: "Der schmale Pfad durchs Hinterland"

Richard Flanagan: "Der schmale Pfad durchs Hinterland"Bild: Verlag Piper

Der wichtigste angelsächsische Literaturpreis ging 2014 an einen Australier. Richard Flanagan erhielt den "Man Booker Prize" für einen Roman, in dem er die traumatischen Erfahrungen seines eigenen Vaters verarbeitete. Der war einer unter hunderttausenden Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, die 1943 von den Japanern gezwungen wurden, beim Bau der Eisenbahnlinie zwischen Thailand und Burma zu schuften.

Flanagan schrieb zwölf Jahre an seinem sechsten Roman. Den quälenden Kriegserlebnissen steht eine überwältigende Liebesgeschichte gegenüber. Auch sie beruht zum Teil auf Wirklichkeit. Wahrscheinlich scheitert sie deshalb auch – aber wie poetisch, das sollte man lesen!

Marlon James: "A Brief History of Seven Killings"

Wir sind in Jamaika. Aber: Dieses Buch ist auf Englisch! Ich lege es Ihnen trotzdem ans Herz – es kann nicht mehr lange dauern, bis sich ein deutscher Verlag für dieses Werk interessiert.

Marlon James: "A Brief History of Seven Killings"Bild: Oneworld Publications

Denn mit Marlon James ist in diesem Jahr erstmals ein jamaikanischer Autor unter den für den "Man Booker Prize" Nominierten. James hat es mit seinem dritten Roman, "A Brief History of Seven Killings", als einer von sechs Titeln sogar auf die Shortlist geschafft.

James erzählt die Geschichte eines Mordversuches auf den Reggaesänger Bob Marley und was in den 1970er und frühen 1980er Jahren daraus folgt. Ein Buch wie ein Tarantino-Remake des berühmten Songs "The Harder they Come", schrieb die New York Times.

Nachtrag: Im Oktober 2015 erhielt der 45-jährige Autor für sein Werk mit dem englischen Originaltitel "A Brief History of Seven Killings" tatsächlich den Man Booker Prize.

Nicci French: "Mörderischer Freitag"

Nicci French: "Mörderischer Freitag"

Entspannung mit Spannung auf dem Weg zurück nach Europa. Beste britische Kriminalliteratur des Autorenpaars Nicci French, das zusammen schon elf Romane geschrieben hat.

Kennen Sie Frieda Klein? Falls nicht, sollten Sie die verletzliche Psychotherapeutin unbedingt kennenlernen. Mehr sollte man zu diesem düsteren Thriller nicht verraten…

Iris Radisch: "Die letzten Dinge"

Wir kommen zurück nach Deutschland und zum Schluss, konsequenterweise mit Iris Radischs "Letzten Dingen". Dieses Buch ist unsere Ausnahme: kein Roman. Die Autorin und Feuilletonchefin der ZEIT hat in ihrem Band "Lebensendgespräche" versammelt, die sie in den letzten dreißig Jahren mit bekannten Autorinnen und Autoren kurz vor deren Tod geführt hat.

Iris Radisch: "Die letzten Dinge"

Was bleibt übrig, wenn sonst nichts mehr übrig bleibt? Wie sieht man sein Leben vom Ende her? Muss man nicht alles neu denken? "Das hat mich mein Leben lang schon immer beschäftigt", sagt die Fragenstellerin bei einem Gespräch im Berliner Literaturhaus. Die Antworten ihrer Gesprächspartner fallen ganz unterschiedlich aus, radikal verzweifelt wie beim Kritiker Reich Ranicki, dem die Literatur angesichts des Sterbenmüssens nichts mehr bedeutet, poetisch wie bei der österreichischen Sprachvirtuosin Friederike Mayröcker oder in tiefere Ich-Schichten versunken wie bei der Lyrikerin Sarah Kirsch.

Was ist das nackte Ich? Diese Frage nimmt man mit. Ein Band, den man weiter in sich trägt.

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