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Reise

Budapest: Neues Leben in alten Ruinen

6. April 2018

Ausgefallene Galerien und Bars locken immer mehr Touristen ins jüdische Viertel der ungarischen Hauptstadt. Die alternative Künstlerszene hält - anders als Ungarns Ministerpräsident - nichts von geschlossenen Grenzen.

Ungarn | Jüdische Viertel in Budapest | Ruinenbar Szimpla Kert im jüdischen Viertel von Budapest
Bild: DW/M. Ostwald

Das Handy klingelt schon wieder, Zoltán Jancsó lächelt entschuldigend und läuft die schmale Treppe hinauf, die aus seiner Galerie ans Tageslicht führt. Seine Assistentin entschuldigt ihn: "Zoltan ist sehr beschäftigt. Und chaotisch". Das beschreibt auch die JAG-Galerie ganz gut: Übereinander gelegte Perserteppiche, mitten im Raum ein Tisch, an dem sich zwei Maler unterhalten, weiter hinten pinselt eine Frau zwischen halbfertigen Bildern und Malutensilien Rosatöne auf eine Leinwand.

Künstler Zoltán Jancsó vor seiner kleinen Galerie in der Kazinczy StraßeBild: DW/M. Ostwald

Kunsttreff an der Kazinczy Straße

Die Grenzen zwischen Ausstellungsraum, Atelier und Wohnzimmer verschwimmen. An den Wänden Bilder, die jeglicher Anordnung entbehren: Abstraktes neben Landschaftsmalerei, dazwischen mal eine Frau in reizvoller Pose oder ein Porträt von Marilyn Monroe. In der JAG-Galerie darf jeder malen und ausstellen. 2015 hat sie sich fast von allein eröffnet: Zoltan Jancsó mietete eine ehemalige Schmiede als Atelier an, schnell kamen Touristen und Anwohner vorbei. Viele guckten, einige wollten mitmachen. 

In der JAG-Galerie darf jeder ausstellen Bild: DW/M. Ostwald

"Ich habe es gespürt", erinnert sich Jancsó, "dieser Ort sollte nicht nur ein Atelier sein, sondern eine Galerie." Sein Gefühl gibt ihm recht, die JAG-Galerie wird schnell zum beliebten Kunsttreff. Sie liegt direkt an der kleinen Kazinczy Straße, eine der belebtesten im jüdischen Viertel.

Das jüdische Viertel im Wandel der Zeit

Der Stadtteil ist in den letzten fünfzehn Jahren zum Szeneviertel aufgestiegen: trendige Cafés und Second Hand Shops treffen auf Street-Art und verfallene Hausfassaden. Es ist der Charme des Heruntergekommenen, in dem Neues entsteht - shabby chic, wenn man so will.
Das Viertel hat dunkle Zeiten durchlebt. Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert wird der Stadtteil zu Budapests jüdischem Zentrum. 1859 wird in der Dohany Straße die Große Synagoge eingeweiht. Ein Jahr später wird gleich im Haus nebenan Zionismus-Begründer Theodor Herzl geboren. Unter der Nazi-Besetzung wird das Viertel 1944 zum Ghetto für über 70.000 Juden. 

Viele der alten Gebäude stehen nach Kriegsende leer. Sie verfallen immer mehr, bis den Ruinen Anfang der 2000er Jahre neues Leben eingehaucht wird. 

Die Stunde der Ruinenbars

"Wir haben alte Möbel zusammengesucht und kleine Kinoabende im Innenhof organisiert", sagt Orsolya Liptay von der Ruinenbar Szimpla Kert. 2004 macht die erste und bis heute größte Ruinenbar auf. Mittlerweile kommen mehr als eineinhalb Millionen Besucher jährlich. Ein Besuch im Szimpla Kert (einfacher Garten) erinnert an eine Entdeckungsreise à la Alice im Wunderland. Über zwei Stockwerke verteilt gibt es Bars mit Craft Beer, Cocktails und Hamburgern, eine Shisha-Bar, eine Bühne für Konzerte, Jam Sessions und Open Mic Abende.

Keine durchgestylte Szenebar: Die Einrichtung im Szimpla Kert ist ein farbenfrohes DurcheinanderBild: DW/M. Ostwald

Auffällig ist die schräge Einrichtung: Eine Badewanne oder ein alter Trabi werden zur Sitzgelegenheit, bemalte Ikea-Mülleimer zu Lampenschirmen, in einem Raum hängen alte Fernseher und Radios zusammen mit Lichterketten von der Decke. 
Auch das Publikum ist bunt gemischt: junge Studenten, Touristen, die sich mit Edding an den Wänden verewigen, aber auch Senioren, die auf einen Pálinka (ein ungarischer Schnaps) herkommen. "Ich glaube den Leuten gefällt, dass hier nicht alles so einheitlich ist wie in anderen Bars", sagt Orsolya Liptay. "Bei uns ist alles erlaubt, was andere nicht stört."

Das Szimpla Kert hat einen Trend angestoßen, der das gesamte jüdische Viertel verändert hat. In den Ruinen von damals gibt es heute große Nachtclubs (z.B. Fogas Ház), gemütliche Bars (z.B. Köleves Kert), mexikanisches Streetfood (z.B. Elláto) oder auch etwas hochpreisigere Restaurants (z.B. Mazel Tov). 

Regionale Künstler fördern

Das Szimpla Kert versteht sich als Kulturtreff. Neben Folklore-Tanzkursen, einem Wochenmarkt und Konzerten gibt es wechselnde Kunstausstellungen, oft in Zusammenarbeit mit der JAG-Galerie von Zoltán Jancsó. Die Fotos, die in diesem Sommer gezeigt werden, sind von der ungarischen Fotografin und Grafikdesignerin Eszter Kazinczy. Sie hat monströse Betonbauten in Prag eingefangen: Brutalismus nennt sich der Architekturstil aus den Sechzigern, der nicht unbedingt als schön gilt. 

Fotografin Eszter Kazinczy im Szimpla KertBild: DW/M. Ostwald

"Ich wollte diese Gebäude in einem anderen Licht zeigen", sagt Eszter Kazinczy. Für die 30-Jährige ist es die erste Fotoausstellung. Besonders der Standort gefällt ihr: "Nirgends in Budapest ist die Kulturszene lebendiger als im jüdischen Viertel." Und dann ist da noch der ganz persönliche Bezug zum Ort: Die Kazinzcy Straße, an der das Szimpla Kert, die JAG Galerie und weitere Hotspots des Viertels liegen, wurde nach ihrem Vorfahren Ferenc Kazinczy, einem Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, benannt. 

Tourismusboom: Segen und Fluch

Als hippes Künstler- und Szenequartier zieht das jüdische Viertel auch viele Partytouristen an. Das bringt Geld, aber auch Probleme mit sich. "Der Drogenhandel hat zugenommen", sagt Orsolya Liptay vom Szimpla Kert, "und es gibt viele ausufernde Junggesellenabschiede. Deswegen brauchen wir Security."

Die Ruinenbar Fogas Ház zählt zu den angesagten Nachtclubs im jüdischen ViertelBild: DW/M. Ostwald

Künstler Zoltán Jancsó weiß um die Probleme in Viertel. Trotzdem: Ohne den Touristenandrang hätte er seine JAG-Galerie vielleicht nie eröffnet. Für ihn ist es ein guter Wandel, der hier stattfindet: "Wir sind internationaler geworden, das ist gut so." Ganz anders sieht das Ungarns Premier Viktor Orbán, der in der Flüchtlingsfrage mit der EU auf Kriegsfuß steht: Um zu verhindern, dass Flüchtlinge ins Land kommen, hat er es fast hermetisch abgeriegelt und an der Grenze zu Serbien einen Stacheldraht ziehen lassen. Das jüdische Viertel bleibt trotzdem bunt, offen, aufgeschlossen. "Wir sind keine Orbáns", sagt Zoltán Jancsó.