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Politik

"Orbán hat das Schweigen der EU erkauft"

Felix Schlagwein
12. Oktober 2020

Seit einem Jahr ist Gergely Karácsony Bürgermeister von Budapest - und einer der wichtigsten Gegenspieler von Viktor Orbán. Im DW-Interview kritisiert er das deutsche und europäische Schweigen gegenüber Ungarn.

Ungarn Bürgermeister von Budapest Gergely Karácsony
Gergely Karácsony, Oberbürgermeister von BudapestBild: Felix Schlagwein/DW

DW: Herr Karácsony, als Sie vor einem Jahr Ihr Amt antraten, erklärte Premierminister Viktor Orbán, mit Ihnen kooperieren zu wollen - obwohl Sie der Opposition angehören. Hat er Wort gehalten?

Gergely Karácsony: Spätestens mit Beginn der Pandemie und der Wirtschaftskrise, die damit einhergeht, hat er seine Meinung geändert. Seitdem benutzt die Regierung die Pandemie als Vorwand, den Städten und Kommunen die Ressourcen zu entziehen. 

In einem Interview sprachen Sie neulich sogar von einem "Krieg" zwischen Ihnen und der ungarischen Regierung. 

Was wir in den vergangenen Wochen und Monaten erleben, ist eine Art Kalter Krieg. Die Regierung nutzt jede Gelegenheit, um uns das Leben schwer zu machen. Wir müssen abwarten, ob wir in bestimmten Fragen gemeinsam Fortschritte erzielen können. Ich bleibe optimistisch.

Budapest, 13.10.2019: Gergely Karácsony hat die Wahl zum Oberbürgermeister deutlich gewonnenBild: AFP/A. Kisbenedek

Die Zahl der Coronavirus-Infektionen in Ungarn ist in den letzten Wochen dramatisch angestiegen. Budapest ist besonders betroffen. Für viele Länder ist die Stadt mittlerweile ein Risikogebiet. Haben Sie genug getan, um die Bürger Ihrer Stadt zu schützen?

Die zweite Welle scheint Budapest weniger zu treffen als die erste, zum Beispiel wenn wir die Zahl der Todesfälle im Verhältnis zum Rest des Landes betrachten. Die Krankenhäuser stehen nicht unter unserer Kontrolle.

Wir tun aber alles, was wir können, um die Menschen in sozialen Einrichtungen und Unternehmen, die wir betreiben, wie zum Beispiel Altenheime, zu schützen. Wir haben hier bereits eine Maskenpflicht eingeführt, als die Regierung das noch nicht vorschrieb. Da Experten die relativ geringe Zahl der Tests in Ungarn kritisieren, haben wir außerdem 40.000 Tests durchgeführt, obwohl die Regierung dafür zuständig gewesen wäre.

"EU-Sanktionen gegen Ungarn, die nicht die Bevölkerung treffen"

In Brüssel dauert der Konflikt um den EU-Haushalt und das milliardenschwere Corona-Rettungspaket noch immer an. Sie fordern, dass ein Teil der EU-Subventionen direkt an die Städte und Gemeinden gezahlt werden soll. Welche Vorteile hätte das?

Erstens: Wenn ausschließlich die Regierung über die Vergabe und Verwendung dieser Mittel entscheidet, besteht ein hohes Korruptionsrisiko, das weiß jeder in Europa. Zweitens wurden diese Fonds eingerichtet, um einen grünen, nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung voranzutreiben. Wir haben Projekte, die diesem Zweck dienen, während die Regierung diese Ziele ablehnt. Mit Direktzahlungen könnte man zudem Regierungen von Mitgliedsstaaten sanktionieren, die gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen, ohne deren Bevölkerung zu bestrafen. 

Für diese Umverteilung von EU-Geldern bedürfte es allerdings Orbáns Zustimmung.

So wie wir das sehen, ist in einigen Bereichen, in denen EU-Gelder verteilt werden, kein Konsens aller EU-Mitgliedsstaaten erforderlich. Hinzu kommt, dass das Europäische Parlament große Fortschritte gemacht hat. Viele Fraktionen dort haben Verständnis für unseren Vorschlag. Außerdem sind wir nicht allein. 36 Städte aus ganz Europa unterstützten unser diesbezügliches Positionspapier, das darlegt, welche rechtlichen Maßnahmen ergriffen werden könnten, um ein gewisses Maß an städtischer Finanzierung zu schaffen. 

Eines Ihrer Hauptziele ist es, Budapest grüner zu machen. Wie soll das konkret geschehen?

Ich komme gerade von der Einweihung eines Solarparks. Das ist die Art von Projekten, die wir unterstützen. Wenn wir das Geld und die Mittel hätten, könnten wir einen großen Teil der Energieproduktion in Budapest nachhaltiger gestalten. Auch die Isolierung alter Häuser wollen wir vorantreiben, um sie energieeffizienter zu machen. Wir könnten zudem Budapests riesige geothermische Ressourcen nutzen, das würde uns auch weniger abhängig von russischem Gas machen. Und natürlich müssen wir auch Mobilität und öffentliche Verkehrsmittel umweltfreundlicher gestalten.

Budapest: Protest gegen politische Einflussnahme auf das unabhängige Nachrichtenportal IndexBild: DW/F. Schlagwein

Immer weniger unabhängige Medien, immer mehr Regierungspropaganda

Für Ihre Politik sind Sie von regierungsnahen Medien heftig kritisiert worden. Es gab regelrechte Hetzkampagnen gegen Sie. Wie gehen Sie damit um? 

Ich trinke sehr viel Kräutertee [lacht]. Einige dieser Kampagnen, die von der Propagandamaschinerie der Regierung kommen, sind einfach so extrem und unglaubwürdig, dass die Leute sie nicht ernst nehmen. Sie werden quasi zu ihrer eigenen Karikatur. Auf der anderen Seite führen sie aber auch dazu, dass die Menschen immer mehr in ihren verschiedenen politischen Blasen leben. Das schafft eine schlechte Atmosphäre und erschwert den öffentlichen Diskurs.

In den vergangenen Monaten hat die Orbán-Regierung ihren Einfluss auf die ungarische Medienlandschaft weiter ausgebaut. Der prominenteste Fall ist der Einstieg eines Orbán-nahen Geschäftsmannes bei Index, dem bis vor kurzem reichweitenstärksten unabhängigen Nachrichtenportal. Wie steht es um die Pressefreiheit in Ungarn?

Es gibt nur noch sehr wenige unabhängige Medien. Zugleich steckt die Regierung immense Summen in ihre eigene Propaganda. Bei Index hat es bisher noch keine radikale Veränderung in der Berichterstattung gegeben. Aber es scheint, dass die Regierung versucht, Index langsam von dem, was es früher war, wegzubewegen, um es dann mehr und mehr in ein regierungsfreundliches Medium umzuwandeln. Die Menschen hier in der Hauptstadt haben andere Informationsquellen, aber die Propagandamedien der Regierung haben vor allem in den ländlichen Gebieten Ungarns einen großen Einfluss. So kann die Regierung ihre Macht behalten, da die Wähler dort keine objektiven Informationen erhalten. 

OB Karácsony beim Solidaritätsprotest für die Studenten der Universität für Theater und FilmkunstBild: Felix Schlagwein/DW

Kritiker sehen auch die Kunstfreiheit und die Freiheit der Universitäten in Gefahr. Seit mehr als einem Monat besetzen Studenten und Professoren die Universität für Theater und Filmkunst SZFE, um gegen die Übernahme durch eine Stiftung zu protestieren, die der Orbán-Regierung nahesteht. Sie haben sich mit den Protestierenden solidarisiert.

Die Fidesz-Partei hat die Kontrolle über alle Aspekte des öffentlichen Lebens in Ungarn übernommen: Politik, Medien, Wirtschaft. Nur im Bereich Kultur und Kunst ist ihr das noch nicht gelungen. Das frustriert sie sehr und deshalb will sie nun diese Universität übernehmen. Die Tatsache, dass diese Studenten jetzt für ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit kämpfen, gibt anderen Teilen der Bevölkerung Hoffnung.

Zögerlicher Umgang der EU mit Orbán

Die EU hat auf die Entwicklungen in Ungarn bisher eher zurückhaltend reagiert. Die Europäische Volkspartei (EVP) hat eine Entscheidung über den Ausschluss von Orbáns Fidesz verschoben. Glauben Sie, dass der Rechtsstaatlichkeitsbericht, den die EU-Kommission gerade veröffentlicht hat, daran etwas ändern wird? 

Da bin ich sehr skeptisch, auch wegen der deutschen Politik gegenüber Ungarn. Große deutsche Konzerne, insbesondere große Autohersteller, werden in Ungarn hofiert, zum Beispiel mit enormen Steuererleichterungen. Die Orbán-Regierung ist zudem ein bedeutender Abnehmer deutscher Rüstungsgüter. Ich denke, der zögerliche Umgang der EVP mit Fidesz ist auch darauf zurückzuführen. Rhetorisch schießt Orbán ständig gegen Großkonzerne und die internationale Finanzwirtschaft, aber in Wirklichkeit begünstigt er die Großindustrie. Um es ganz offen zu sagen: Er hat sich das Schweigen der EU erkauft.

Bundeskanzlerin Merkel und Premierminister Orbán beim EU-Sondergipfel in Brüssel, 1.10.2020 Bild: Dursun Aydemir/AA/picture-alliance

Bei einer Nachwahl in Nordungarn unterstützte Ihre Partei den gemeinsamen Oppositionskandidaten der ehemals rechtsextremen Jobbik-Partei. Deren Kandidat hatte sich in der Vergangenheit mehrfach antisemitisch geäußert. Bei den nächsten Parlamentswahlen will die Opposition in der gleichen Konstellation antreten. Wie soll das funktionieren?

Jobbik hat sich entschieden, von der extremen Rechten in die demokratische Mitte zu wechseln. Wir müssen diese Bewegung weiterhin unterstützen, auch wenn es noch einige Politiker in der Partei gibt, die sich dieser Sprache bedienen. Ein solcher Sprachgebrauch ist übrigens auch in den Reihen der Fidesz zu finden.

Hätte die Opposition ohne Jobbik überhaupt eine Chance?

Nein. In vielen Wahlbezirken sind Jobbik-Wähler entscheidend. Trotzdem fordern wir natürlich, dass Jobbik sich zu unseren gemeinsamen Werten bekennt und all jene aus der Partei entfernt, die das nicht tun. 

Sie haben mehrfach erklärt, bei den Wahlen 2022 nicht gegen Viktor Orbán antreten zu wollen - obwohl Sie für viele als aussichtsreichster Kandidat gelten. Bleibt es dabei?

Ich habe nicht vor, für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren. Ich denke, was die Opposition braucht, ist nicht diese magische Messias-Figur, sondern ein gutes gemeinsames politisches Programm. Das kann die Oppositionsparteien einen, und wenn das erreicht ist, können sie auch einen guten Kandidaten finden, der diese Koalition anführt. 

Gergely Karácsony, Jahrgang 1975, ist einer der wichtigsten ungarischen Oppositionspolitiker. Der studierte Politologe gründete 2014 die grün-linksliberale Partei "Dialog für Ungarn" und wurde im selben Jahr Bürgermeister eines wichtigen Budapester Stadtbezirkes. In dieser Funktion erwarb er sich schnell Ansehen und wurde zu einem der beliebtesten Oppositionspolitiker Ungarns. Seit Oktober 2019 ist er Oberbürgermeister Budapests.