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Politik

Zwei Überraschungssieger und viele offene Fragen

Christopher Nehring
15. November 2021

Zwei Harvard-Absolventen haben die bulgarischen Parlamentswahlen gewonnen und stehen nun vor einer schwierigen Regierungsbildung. Die Wahlbeteiligung liegt auf einem Tiefststand, Rechtsextreme ziehen ins Parlament ein.

Bulgarien | Projekt „Der Wandel geht weiter“
Kiril Petkow und Assen Wassilew, Wahlsieger und Gründer des Bündnisses Wir führen den Wandel fortBild: BGNES

"Unsere Priorität wird sein, die Korruption zu stoppen" - diesen Satz wiederholte Kiril Petkow am Abend der Wahl in Bulgarien unzählige Male. Das von Petkow und seinem Kollegen Assen Wassilew geführte Wahlbündnis Wir führen den Wandel fort (PP) hat laut allen Hochrechnungen und vorläufigen Ergebnissen die Parlamentswahl vom 14.11.2021 überraschend gewonnen.

Im bulgarischen Staatsfernsehen kündigte Petkow, der nun als aussichtsreichster Anwärter auf das Amt des Ministerpräsidenten gilt, an, mit allen Parteien in dem EU-Land in den Dialog über Koalitionsverhandlungen treten zu wollen - außer mit der GERB-Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Bojko Borissow und der Partei der türkischen Minderheit DPS.

Die Wahlsieger machen die beiden Parteien für die grassierende Korruption im Land verantwortlich. Als "natürliche Partner" in einer neuen Regierung bezeichnete Petkow dagegen die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) sowie die Parteien Demokratisches Bulgarien (DB) und Es gibt so ein Volk (ITN). "Deren Ziele und Grundprinzipien stimmen mit unseren überein: Die Korruption stoppen und als Beginn eines funktionierenden Justizsystems den Generalstaatsanwalt auswechseln", so Petkow.

Bulgariens Ex-Premier Bojko Borissow bei der Stimmabgabe am 14.11.2021Bild: BGNES

Die "Jungs aus Harvard", wie die beiden Wirtschaftsmanager aufgrund ihres Studienortes genannt werden, waren Teil der Übergangsregierung nach der Wahl vom April 2021. Im Sommer übernahmen sie die beiden Kleinparteien Volt und Europäische Mittelklasse und machten daraus das Bündnis Wir führen den Wandel fort. Für die Gründung und den Aufbau einer eigenen Partei reichte die Zeit bis zur Wahlen vom Sonntag (14.11.2021) nicht.

"Sie sind politisch unbelastet und strahlen Energie, Tatkraft und politische Courage aus", sagte Vessela Tcherneva, Direktorin des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Sofia, der DW über die Stärken der neuen Formation im Vorfeld der Wahl. Bis zum Wahltag sahen alle Prognosen die PP hinter der GERB-Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Bojko Borissows. Der kommentierte seine Niederlage so: "Alle haben schon meinen Sarg getragen, aber ich freue mich, am Leben zu sein."

Drei Wahlen, drei Sieger

Bei der dritten Parlamentswahl in diesem Jahr kürten die Wähler den dritten Sieger. Im April scheiterte GERB trotz des höchsten Anteils an Stimmen mit der Regierungsbildung an der Koalitions-Verweigerung der anderen Parteien; im Juli glaubten die Populisten von Es gibt so ein Volk ohne Koalitionspartner regieren zu können. Und auch für Petkow und Wassilew wird es nicht einfach werden, eine Regierung zu bilden. Denn die bulgarischen Wähler haben zwar erneut gegen eine Rückkehr von Bojko Borissow an die Macht gestimmt - aber wieder keine klare Regierungsmehrheit vergeben.

Wesela Tschernewa, Direktorin des European Council on Foreign Relations (ECFR) in SofiaBild: BGNES

Das Bündnis Wir führen den Wandel fort kann nur in einer Viererkoalition eine parlamentarische Mehrheit erreichen. Vessela Tcherneva glaubt jedoch an eine Regierungsbildung bis Weihnachten: "Es wird eine heterogene Koalition, aber in den wichtigsten Fragen - Korruption, Justiz, Budget und Corona-Management - liegen sie nicht weit auseinander. Und während die anderen drei Parteien deutlich geschwächt aus den Wahlen hervorgehen, haben Petkow und Wassilew bereits am Wahlabend Kompromissbereitschaft demonstriert, zum Beispiel bei der Postenvergabe."

Faschistoide Tendenzen

Doch weder PP noch ITN verfügen über stabile Parteistrukturen. "Die müssen sie im ganzen Land aufbauen - und gleichzeitig ihr Reformprogramm umsetzen. Das wird keine leichte Aufgabe", so Vessela Tcherneva zur DW. "GERB und DPS hingegen sind auf dem regionalen Niveau und durch ihre Verbindungen in die Wirtschaft immer noch stark, das ist ihr Kapital." Das belegen auch die anderen Wahlergebnisse dieses Jahres: Während die Ergebnisse der sogenannten "Parteien der Proteste" bei jeder Wahl um bis zu 100 Prozent schwankten, blieben die Sozialisten, die DPS und Borissows GERB-Partei konstant. Deren Parteiapparate konnten zwar keine Mehrheit mobilisieren - Blockade-Potential haben sie jedoch allemal.

Parwan Simeonow, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Gallup International BalkansBild: Parvan Simeonov/Gallup International Bulgaria

Die Euphorie über die Überraschungswahlsieger vermag auch einige besorgniserregende Entwicklungen kaum zu kaschieren. Mit nicht einmal 40 Prozent sank die Wahlbeteiligung auf einen historischen Tiefststand. Parwan Simeonow, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Gallup International Balkans, sah die Entwicklung im Gespräch mit der DW vorher: "Es herrscht eine Mischung aus Ermüdung und Gleichgültigkeit - und die Gefahr faschistoider Tendenzen ist real." Wie real, zeigte das Ergebnis der ultranationalistischen und rechtsextremen Partei Wiedergeburt, die laut Hochrechnungen mit bis zu fünf Prozent rechnen darf. "Der Einzug der Nationalisten ins Parlament ist natürlich unangenehm, im gesamteuropäischen Maßstab allerdings ist ihre Unterstützung immer noch gering", so Vessela Tcherneva zur DW.

Stichwahl macht Superwahljahr perfekt

Bei der zeitgleich abgehaltenen Präsidentschaftswahl gewann unterdessen erwartungsgemäß Amtsinhaber Rumen Radew. Da er aber aller Voraussicht nach nicht die in der Verfassung vorgeschriebene absolute Mehrheit auf sich vereinigen konnte, wird es zu einer Stichwahl kommen. Radews stärkstem Gegner, dem von Borissows GERB-Partei unterstützten Rektor der Sofioter Universität Anastas Gerdschikow, gelang ein Achtungserfolg. Im zweiten Wahlgang treten die beiden im Kampf um eine einfache Mehrheit an.

Obgleich Radew gute Chancen hat, hält Meinungsforscher Parwan Simeonow seinen Sieg keineswegs für ausgemacht: "Der hängt von der Unterstützung der anderen Parteien wie DPS, BSP, Demokratisches Bulgarien und Es gibt so ein Volk ab. Wenn sie zur Unterstützung Gerdschikow aufrufen, kann es schwierig werden für Radew." Die Wahl wird am 21. November 2021 stattfinden - als fünfte Abstimmung in diesem Jahr in Bulgarien.