Bulgarien: Neuwahl vor einem schweren Winter
27. September 2022Politische Stabilität herrschte selten in Bulgarien seit Ende der kommunistischen Diktatur 1989/90. Inzwischen jedoch übertrifft das Land sich gewissermaßen selbst und hält einen zweifelhaften Rekord: Innerhalb von lediglich 18 Monaten steht am kommenden Sonntag die vierte Parlamentswahl an. Nach der regulären Wahl vom April 2021 und zwei vorgezogenen Wahlen ist dies nun bereits die dritte vorgezogene Wahl in Folge. Ob sie ein Ende der politischen Krise bringt, ist unklar.
Nötig wurde die vorgezogene Neuwahl nach dem Sturz der liberalen Reformregierung unter Ministerpräsident Kiril Petkow im Juni 2022. Sie amtierte erst seit Ende 2021 und wurde von einer sehr heterogenen Koalition aus zwei liberalen Parteien, darunter Petkows "Wir setzen den Wandel fort" (PP), den ex-kommunistischen Sozialisten (BSP) und einer populistischen Kraft getragen. Die populistische Partei "Es gibt so ein Volk" (ITN) hatte sich im Frühsommer 2022 aus der bisherigen Vier-Parteien-Koalition zurückgezogen. Ein anschließendes Misstrauensvotum verlor die Regierung Petkow am 8. Juni 2022.
Korruption, unerfüllte Reformversprechen
Nun steht Bulgarien erneut vor einer schwerwiegenden Frage: Wird das Land nach der Wahl eine regierungsfähige Mehrheit bekommen, damit es einen schweren Winter und eine Zeit übersteht, die geprägt ist vom Ukraine-Krieg, von Inflation und von hohen Energiepreisen? Das scheint nicht in Sicht, denn die allermeisten Umfragen sagen erneut ein Parlament mit sechs bis acht Parteien voraus.
Gewinner der derzeitigen politischen Krise ist die Partei des einstigen Langzeitpremiers Bojko Borissow, GERB, abgekürzt für "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens". Borissow und seine derzeit in Opposition befindliche Partei sind großenteils für die jetzige Krise mitverantwortlich, da sie im Frühjahr 2021 nach über einem Jahrzehnt Regierungszeit vor allem politische Wirren, zahlreiche Korruptionsaffären und viele unerfüllte Reformversprechen hinterließen.
Koalition ohne Borissow
Nun jedoch führt Borissows Partei in Umfragen wieder. GERB liegt bei etwa 24 Prozent - und damit rund acht Prozent vor Petkows PP. Borissow hofft auf einen klaren Sieg, doch eine eigene Mehrheit kann GERB wohl nicht erreichen und braucht daher einen Koalitionspartner. Außenpolitisch ist GERB klar euro-atlantisch ausgerichtet. Doch die beiden anderen Parteien mit einem ebenfalls klar euro-atlantischen Bekenntnis, Petkows PP und die liberal-konservative Partei Demokratisches Bulgarien (DB), wollen mit GERB keine gemeinsame Regierung bilden, da Borissow durch Korruptionsvorwürfe noch immer schwer belastet ist.
Deswegen wird schon laut über eine GERB-Koalitionsregierung ohne den Ex-Premier nachgedacht. Der Politologe Daniel Smilow ist da skeptisch. In einem Beitrag DW Bulgarisch schreibt er: "Die einzige Sorge von GERB ist, den Job ihres Vorsitzenden zu schützen. Und solange Borissow die Führungsfigur ist, kann GERB unmöglich einen Schlussstrich unter die eigene Vergangenheit ziehen."
Gefährlicher Nationalismus
Zahlenmäßig also wäre eine "euro-atlantische Koalition" möglich, aber nur ohne Borissow. Viele andere Möglichkeiten hat seine Partei nicht, denn nach zwölf Regierungsjahren gilt GERB unter den restlichen kleinen Parteien nicht mehr als möglicher Partner.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht ein gefährlicher Nationalismus, gepaart mit starken pro-russischen Akzenten - ein seltsamer Mix, der viele Bulgaren in die Hände der rechtsradikalen Partei Wasraschdane (Wiedergeburt) treiben oder auch von den Wahllokalen fernhalten könnte. Wasraschdane, angeführt von dem autoritären Putin-Versteher Kostadin Kostadinow, der die EU und NATO bekämpft, kann sogar mit einem zweistelligen Ergebnis rechnen und drittstärkste Partei im Parlament werden.
Gas und russische Einflüsse
Das würde den pro-russischen Druck auf die anderen Parteien und die Gesellschaft erhöhen. Denn innerhalb der EU ist Bulgarien das Russland-freundlichste Land. Die Mehrheit der Bulgaren ist zwar immer noch EU-freundlich und verurteilt den russischen Krieg gegen die Ukraine, aber die Spaltung der Gesellschaft bleibt sichtbar. Der international bekannte bulgarische Politikwissenschaftler Iwan Krastew erklärt das Problem in einem Interview mit DW Bulgarisch folgendermaßen: "Es gab in Bulgarien traditionell immer starke pro-russische Gefühle. Heute sehen viele Menschen hier in Russland eine Alternative zu allem, was ihnen in der westlichen Welt missfällt."
Auch die steigenden Energiepreise und das lange Hin und Her in Sachen russischer Gaslieferungen sind vor der Wahl präsent. Der russische Staatskonzern Gazprom hat zwar die Lieferungen nach Bulgarien bereits im April 2022 einseitig gestoppt. Doch die Kreml-Lobby im Land, Kostadinows nationalistische, pro-russische Partei und auch viele Bulgaren fordern weiterhin, Sofia solle sich mit Moskau versöhnen und um neue russische Gaslieferungen bemühen.
Wie müde sind die Wähler?
Entscheidend für die Zusammensetzung des neuen bulgarischen Parlaments wird auch die Wahlbeteiligung sein - je höher, desto mehr Chancen für eine regierungsfähige Koalition ohne Unterstützung von Kleinstparteien oder Nationalisten. Beobachter befürchten allerdings, dass die Wähler nach vier Wahlen in 18 Monaten längst müde und frustriert sind.
Der Meinungsforscher und Politologe Andrei Raitschew sieht das anders: "Es wird allgemein behauptet, diese Wahl werde sein wie die vorherigen beiden vorgezogenen Parlamentswahlen. Das stimmt aber nicht", sagt er der DW. Laut Raitschew haben sich die Bulgaren bei den vorangegangenen Wahlen nur auf die eigenen, innenpolitischen Probleme konzentriert. Zurzeit aber gehe es um Dinge, die außerhalb Bulgariens lägen: eine hohe Inflation in Europa, galoppierende Energiepreise und der Krieg vor Bulgariens Haustür.
Zusammenhalt durch den Krieg?
"Dadurch sind unsere inneren Probleme in den Hintergrund getreten", so Raitschew. "Bulgarien ist klein, arm, schwach und abhängig, und in dieser Situation spüren die Bulgaren intuitiv, dass sie vereint sein müssten." Daher glaubt der Politologe, dass die bulgarischen Wählerinnen und Wähler eine klare Botschaft and die Politiker senden könnten: "Vergesst den inneren Schwachsinn und die Streitereien und vereinigt euch, zumindest bis der Krieg vorbei ist."
Ob er Recht hat, werden die Wahlergebnisse zeigen, die erfahrungsgemäß noch in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 2022 bekannt gegeben werden.