Bulgarien: Proteste nach Verhaftung von Oppositionspolitiker
25. Juli 2025
"Meine Hauptmotivation, hier auf dem Platz zu sein, ist mein Durst nach Gerechtigkeit", sagt Berkay. Der junge Mann nimmt am 18. Juli 2025 im bulgarischen Varna an einer Protestveranstaltung gegen die Verhaftung des Bürgermeisters der Schwarzmeerstadt teil. "Mein Gewissen und meine bürgerliche Pflicht lassen es nicht zu, angesichts der offensichtlichen Tendenz zur Autoritarisierung unseres Landes mit verschränkten Armen dazustehen." Berkay und die anderen Demonstranten möchten nur ihre Vornamen nennen.
Blagomir Kotsev, Mitglied der reformorientierten Partei "Wir setzen den Wandel fort" (PP), war am 8. Juli 2025 bei einer spektakulären Razzia der Antikorruptionskommission Bulgariens festgenommen worden. Den Ermittlern zufolge leitete der Politiker eine organisierte kriminelle Gruppe, die Druck auf Unternehmen ausübte, die öffentliche Aufträge erhielten. Als Komplizen wurden zwei Gemeinderatsmitglieder aus Kotsevs Partei sowie ein Geschäftsmann aus Varna genannt.
Kostevs Verhaftung löste nicht nur in Varna, sondern auch in der Hauptstadt Sofia und anderen Orten Proteste aus. Mittlerweile ist der Fall zum Symbol für die wachsende Befürchtung in der bulgarischen Gesellschaft geworden, dass die aktuelle Regierung des EU-Mitgliedslandes die Staatsanwaltschaft als Instrument für ein politisches Vorgehen gegen ihre Gegner einsetzt.
"Solche Maßnahmen stellen einen schwerwiegenden Eingriff in die Demokratie dar und untergraben die Glaubwürdigkeit des Justizwesens. Dies ist kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Problems im bulgarischen Justizsystem", sagt der Demonstrant Konstantin, der seinen Unmut vor dem Rathaus von Varna zum Ausdruck bringt.
Rechtsstaatlichkeit: Probleme sind bekannt
Dass Bulgarien tiefgreifende Probleme mit seiner Justiz hat, ist lange bekannt. Im jüngsten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Kommission wird zudem festgestellt, dass in fast keinem Bereich Fortschritte erzielt wurden. Der Bericht wurde am selben Tag veröffentlicht, an dem der Bürgermeister von Varna festgenommen wurde.
"Die bulgarische Demokratie ist in Gefahr, und alle, denen sie am Herzen liegt, müssen ihre Parteizugehörigkeit ablegen und sich den Versuchen widersetzen, Autokratie und Autoritarismus im Land durchzusetzen", schreibt der bulgarische Politologe Daniel Smilov auf der Webseite von DW Bulgarisch. "Diese Begriffe mögen vage und übertrieben klingen - aber leider beschreiben sie genau, was passiert: Wichtige Institutionen wurden gekapert und Macht und Gewalt eingesetzt, um die Interessen einer bestimmten politischen Macht durchzusetzen."
Liberale Alternative
Varna, die drittgrößte Stadt Bulgariens, war viele Jahre lang in den Händen der Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB) des langjährigen bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow [alternative Schreibweise: Boyko Borissov]. Der konservative Politiker stand im Laufe der Jahre zusammen mit Parteifreunden immer wieder im Mittelpunkt von Korruptionsskandalen. Korruption und Vetternwirtschaft waren es auch, die 2020 die Massenprotesten auslösten, infolge derer Borissow beschloss, nicht erneut für das Amt des Premiers zu kandidieren.
Nach den Kommunalwahlen 2023 bekam Varna einen neuen Bürgermeister: Blagomir Kotsev, Mitglied der liberalen PP, die im Zuge der massiven Anti-Regierungsproteste im Sommer 2020 auf der politischen Bühne des Balkanlandes aufgetaucht war. Koalitionspartner wurde das Mitte-Rechts-Bündnis "Demokratisches Bulgarien" (DB). Beide Parteien haben eine klare pro-europäische Ausrichtung und positionieren sich als Alternative zum Regierungsmodell aus der Zeit von Borissow, den sie als "korrupt" bezeichnen.
Schwerwiegende Verfahrensverstöße
Auch auf gesamt-bulgarischer Ebene übernahmen PP und DB zeitweise die Regierungsgeschäfte. Doch seit dem 16. Januar 2025 regiert erneut eine Koalition aus GERB, Bulgarischer Sozialistischer Partei (BSP) und der populistischen Partei "Es gibt so ein Volk" (ITN). Das Bündnis verabschiedet Gesetze mit Unterstützung der Partei "Bewegung für Rechte und Freiheiten - Neuanfang" des Oligarchen Deljan Peewski [alternative Schreibweise: Delyan Peevski], der in den USA und im Vereinigten Königreich nach dem "Magnitsky Act" mit Sanktionen belegt wurde. Die ARDbezeichnet Peewski als "aktuell mächtigsten Mann im Land, als der Strippenzieher im Hintergrund." Durch sein Netzwerk soll er die Justiz "in weiten Teilen kontrollieren".
Bei der Verhaftung von Bürgermeister Kotsev wurden nach Angaben seiner Anwälte schwerwiegende Verfahrensverstöße begangen. Sie kritisieren, dass neben Kotsevs Arbeitsplatz in der Gemeindeverwaltung auch seine Privatwohnung durchsucht wurde, in der sich zu diesem Zeitpunkt seine Frau und ihre beiden kleinen Kinder aufhielten.
Unklare Beschuldigungen
Die Hauptanklage gegen Kotsev stützt sich fast ausschließlich auf die Aussagen der Geschäftsfrau Plamenka Dimitrova. Die Inhaberin eines Catering-Unternehmens, das öffentliche Einrichtungen in Varna beliefert, soll der GERB nahe stehen. Unter der Regierung der Borissow-Partei hat sie öffentliche Aufträge in Millionenhöhe erhalten. Die neue Führung von Varna entschied sich jedoch für einen anderen Dienstleister, der einen deutlich niedrigeren Preis bot. Daraufhin behauptete Dimitrova, sie sei von Mitarbeitern der Stadtverwaltung aufgefordert worden, 15 Prozent des Auftragswerts abzugeben, um den Zuschlag zu erhalten.
Ein weiterer wichtiger Zeuge in diesem Fall ist der ehemalige stellvertretende Bürgermeister von Varna, Dian Ivanov. Der bestätigte Dimitrovas Geschichte zunächst - zog seine Aussage aber später zurück und sagte, sie sei "unwahr" und "unter Druck" von Beamten der Antikorruptionskommission gemacht worden. Ivanov wurde jedoch nicht erneut befragt und seine widerrufene Aussage trug zur Entscheidung des Gerichts vom 18. Juli 2025 bei, Kotsev und die beiden anderen PP-Ratsmitglieder aus Varna dauerhaft in Haft zu halten.
Kampagne gegen die Opposition?
Nach Ansicht der Oppositionsparteien PP und DB sind die Ermittlungen gegen Kotsev Teil einer breit angelegten repressiven Kampagne gegen die Opposition, die von der Staatsanwaltschaft geführt wird. Diese sei nicht unabhängig, sondern diene den politischen Interessen von GERB und DPS-Chef Deljan Peevski.
Ende letzten Monats wurde ein weiterer PP-Politiker, der ehemalige stellvertretende Bürgermeister von Sofia Nikola Barbutov, verhaftet und ebenfalls wegen Korruption und Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung angeklagt. Daraufhin trat Kiril Petkov, einer der beiden PP-Vorsitzenden, zurück und kündigte an, er übernehme persönlich die politische Verantwortung.
Unzufriedenheit mit Brüssel
Bisher gibt es keine Reaktion der Europäischen Kommission auf die Vorgänge in Bulgarien. Deren derzeitige Präsidentin Ursula von der Leyen ist Mitglied der Christlich-Demokratischen Union (CDU), die zusammen mit GERB der Europäischen Volkspartei (EVP) angehört. In Bulgarien werfen viele Demonstranten der EVP vor, zu den korrupten Praktiken der GERB zu schweigen.
Bei den Protesten halten Bulgarinnen und Bulgaren Plakate mit dem Slogan "Ursula, unterstützen Sie immer noch GERB?" hoch. "Ich hoffe, dass die Europäische Union aufhört, diesen Schurken vorbehaltlos Geld zu geben", sagt Philip, der in Sofia protestiert, der DW. "Das Regime von Bojko ist nichts ohne das Geld aus Europa. Das Regime von Peewski ist nichts ohne das Geld aus Europa".
In Varna sagt Berkay einen langen politischen Kampf voraus: "Ich glaube, dass wir endlich die bösartigen Modelle und diejenigen, die sie verkörpern, bekämpfen müssen. Eines Tages, wenn wir Eltern werden, wollen wir uns nicht schämen müssen für die Zustände in dem Land, das wir unseren Kindern hinterlassen".