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Politik

Expats wollen Bulgarien verändern

Alexandar Detev
11. November 2021

Bulgaren, die im Ausland studiert und gearbeitet haben, wollen im Zuge der am 14. November anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dringende Reformen durchsetzen.

Wanja Kramer
Wanja Kramer organisiert mit anderen Expat-Aktivisten die Kampagne "Du hast das Recht auf Bulgarien"Bild: privat

"Egal, ob wir Bulgarien in Chicago oder Sofia erwähnen - wir tun es mit Liebe", sagt Wanja Kramer, die seit 20 Jahren in den USA lebt. Gemeinsam mit Werbeexperten in ihrem Herkunftsland und Aktivistinnen und Aktivisten, die, wie sie, im Ausland leben und arbeiten, organisiert sie die Kampagne "Du hast das Recht auf Bulgarien". Diese soll bulgarische "Expats" dazu anregen, am 14. November 2021 an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in ihrem Herkunftsland teilzunehmen. Die Bulgarinnen und Bulgaren wählen in diesem Jahr zum dritten Mal ein Parlament, nachdem Regierungsbildungen nach den Wahlen vom 4. April und vom 11. Juli gescheitert waren.

In Bulgarien gibt es keine Briefwahl, also können Expats nur persönlich in einer Botschaft oder einem extra eingerichteten Wahllokal abstimmen. Die Organisation der Abstimmung wird zu einem großen Teil von Freiwilligen übernommen. "Ich kenne Leute, die Hunderte von Kilometern fahren, um wählen zu können", sagt Wanja. Die meisten Landsleute in den USA würden sich für das Leben und die Politik in ihrem Heimatland interessieren. Wanja Kramer ist sich sicher: "Wenn wir Korruption bekämpfen, wenn gut gebildete und vorbereitete Menschen in den Institutionen arbeiten, wenn das Gesundheits- und Bildungssystem reformiert wird - dann werden viele Expats nach Bulgarien zurückkehren."

Einige Auswanderer haben das bereits getan. Andrej Gjurow etwa studierte an der Truman State University in den USA und promovierte dann in Österreich. In Wien leitete er eine Kreditrisikoabteilung der Volksbank und lehrte an der Universität. 2009 kehrte er mit seiner Familie in sein Heimatland zurück und begann seine Lehrtätigkeit an der American University in Blagoewgrad.

"Als ich nach Bulgarien zurückkehrte, war meine größte Angst, dass meine Familie und meine Kinder in einem Notfall womöglich keine angemessene und schnelle medizinische Versorgung bekommen würden. Und dass die Ausbildung nicht auf dem gewünschten Niveu ist", sagt Gjurow. Seit Jahren zeigen bulgarische und rumänische Schüler in den internationalen PISA-Studien die schwächsten Ergebnisse aller EU-Länder. Das bulgarische Gesundheitssystem leidet seit Jahrzehnten unter einer massiven Abwanderung von Ärzten und medizinischen Fachkräften. "In diesen Bereichen braucht Bulgarien eine echte Reform", sagt Andrej Gjurow.

Oberste Priorität: Null Korruption

Um diese Reform anzustoßen, kandidiert Gjurow nun für die Partei "Wir setzen den Wandel fort", die im September 2021 von den ehemaligen Wirtschafts- und Finanzministern Kiril Petkow und Assen Wassilew gegründet wurde. Beide sind Harvard-Absolventen, erfolgreiche Geschäftsleute und wurden im Mai 2021 Mitglieder der Übergangsregierung, die nach dem Scheitern der Regierungsbildung vom bulgarischen Präsidenten Rumen Radew eingesetzt wurde.

Andrej Gjurow kandidiert für die Partei "Wir setzen den Wandel fort"Bild: privat

Als am 11. Juli 2021 eine Neuwahl stattfand, hatten Petkow und Wassilew bereits breite Zustimmung für ihre hartnäckige Arbeit gewonnen - als Minister hatten sie schwerwiegende Missbräuche bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und bei der Bulgarischen Entwicklungsbank aufgedeckt. Als auch nach der zweiten Parlamentswahl am 11. Juli erneut keine Regierung zustande kam, traten Petkow und Wassilew von ihren Ämtern zurück - und stiegen voll in den Wahlkampf ein. Ihr Parteifreund Gjurow sagt: "Wir brauchen Gerechtigkeit. Deshalb ist unsere oberste Priorität null Korruption. Denn Korruption hält das ganze Land gefangen und behindert die Entwicklung in allen Bereichen."

Energiepolitik und Rechtsstaatlichkeit

Einer der jungen, im Ausland ausgebildeten Minister, die Teil der Übergangsregierung wurden, blieb auf seinem Posten: Atanas Pekanow. Nach einem Studium in Wien und London sammelte er Erfahrungen beim Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt. Als stellvertretender Ministerpräsident ist der 31-jährige derzeit für die Verwaltung der Europäischen Fonds zuständig. Mit seinem Team sollte er einen bulgarischen "Aufbau- und Resilienzplan" erarbeiten, der sicherstellt, dass sein Land Mittel aus dem EU-Corona-Hilfsfonds erhält.

Atanas Pekanow, stellvertretender Ministerpräsident der bulgarischen ÜbergangsregierungBild: BGNES

"Wir setzen die Gespräche mit der Europäischen Kommission über Energiepolitik und Rechtsstaatlichkeit fort", sagt Pekanow der DW. Um die 6,6 Milliarden Euro aus dem EU-Corona-Hilfsfonds zu bekommen, sollte Bulgarien sich verpflichten, bis 2038 aus der Kohle auszusteigen. "Die bis April amtierende Regierung des ehemaligen Premiers Bojko Borissow hat zu diesem Thema in den vergangenen Jahren fast nichts unternommen", sagt Pekanow.

Erhebliche Verschlechterung

Zudem braucht Bulgarien dringend eine Justizreform. In einer Resolution des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2020 wurde eine "erhebliche Verschlechterung der Achtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundrechte" festgestellt. Der Europäischen Kommission zufolge übt der Generalstaatsanwalt aufgrund seiner Befugnisse und seiner Stellung einen erheblichen politischen Einfluss aus.

Bulgariens Präsident Rumen RadewBild: Imago Images/Skata

"Zuerst müssen wir die Rechenschaftspflicht des Generalstaatsanwalts ausbauen und eine Rechtsverfolgung ermöglichen", sagt Pekanow. Ermittlungen gegen den Generalstaatsanwalt seien derzeit so gut wie unmöglich. "Es gibt auch ein Problem mit den öffentlichen Aufträgen", so Pekanow weiter: "Bulgarien ist das EU-Land mit den meisten öffentlichen Aufträgen, die ohne Ausschreibung vergeben wurden." Um das zu ändern, braucht Bulgarien ein stabiles Parlament und eine stabile Regierung. Ob Pekanow in einer neuen Regierung bleiben wird, ist noch ungewiss. "Das hängt von ihren Prioritäten ab", sagt er.

Gegen das Misstrauen

Die Bulgarinnen und Bulgaren werden inmitten einer vierten Corona-Welle mit einer Rekordzahl von Krankenhauseinweisungen und Todesfällen zur Wahl gehen. Dennoch sind viele Bulgarinnen und Bulgaren gegen eine Impfung. Bulgarien ist das EU-Land mit dem geringsten Anteil an Geimpften an der Gesamtbevölkerung. Der Grund laut Pekanow: "Niemand glaubt niemandem in Bulgarien." Der Ökonom Gjurow spricht seinerseits von einer "tiefen Vertrauenskrise" im Land.

Laut Umfragen könnte die Partei GERB des langjährigen Premierministers Bojko Borissow aus der Wahl erneut als stärkste Kraft hervorgehen. Doch nach mehr als zehn Jahren als Regierungschef ist Borissow politisch isoliert: Die meisten anderen Parteien und ein Großteil der bulgarischen Gesellschaft werfen ihm Korruption und Vetternwirtschaft vor.

Viele bulgarische Expats werden am 14. November 2021 wieder wählen gehen - in der Hoffnung, dass ihre Stimme das Land zum Besseren verändern kann. "Es ist zwar ermüdend, zum dritten Mal in einem Jahr unsere Stimme abzugeben", sagt Wanja Kramer. "Aber Müdigkeit ist etwas, das man überwinden kann - im Gegensatz zu Apathie." Sie ist überzeugt: "Wenn es um Bulgarien geht, werden wir nie apathisch sein."

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