"Traumziel Deutschland"
30. Juni 2015Boris*, der 30-jährige Lebensmittelverkäufer in der Roma-Siedlung, kennt alle Wege nach Deutschland. Er lebt zwar noch in Bulgarien, aber seine Verwandten sind schon fast alle nach Koblenz umgezogen. Denn die Stadt am Rhein ist gängiges Ziel für Migranten aus dem bulgarischen Vidin. Die ersten Familien haben sich schon in den 1990er Jahren auf den Weg dorthin gemacht. Heute pendeln zwei Minibusse von der Roma-Siedlung am Rande von Vidin nach Koblenz - und zwar dreimal in der Woche.
Sie haben keinen festen Fahrplan, auch keine offizielle Haltestelle, und trotzdem wissen alle Bescheid: Man soll sich nur im Café von Georgi anmelden und 80 Euro für die einfache Fahrt bezahlen. Dafür bekommt man einen Rund-um-Service von Tür zu Tür, das Gepäck wird am Vorabend abgeholt, die Passagiere am frühen Morgen.
Ohne Beziehungen keine Fahrkarte
"Aber einfach bei Georgi auftauchen und ein Ticket kaufen, das geht überhaupt nicht", warnt Boris. Die Busfahrer akzeptierten keine Unbekannten, noch weniger Passagiere, die in Koblenz nicht abgeholt werden. Denn die deutschen Behörden beobachten die Minibusse misstrauisch und kontrollieren sie streng, erzählt ein Busfahrer. Also würde er es keinesfalls zulassen, dass in seinem Bus Drogenhändler oder Zuhälter einsteigen. Deswegen gibt es ein "Auswahlverfahren": Für jeden Fahrgast muss jemand aus der Siedlung bürgen, der schon in Koblenz wohnt. "Es ist auch für die Passagiere gut", fasst Boris zusammen. "Sie sind ja sowieso hilflos in Deutschland. Sie brauchen jemanden, der ihnen die Gesetze erklärt."
Das Wort "Gesetz" fällt immer wieder in Zusammenhang mit Deutschland. Die Roma meinen damit so etwas wie den "Way of Life". Die deutschen Gesetze zu kennen, heißt, den Alltag zu meistern: Die Müllabfuhr kommt donnerstags, die Ehefrau ist mehr als eine Haushaltshilfe und das neue Leben beginnt erst mit der Anmeldung. Selbst Boris weiß das: "Nur wenn du einen legalen Aufenthalt und Arbeit hast, kannst du bei den Deutschen eine Wohnung mieten." Sonst muss der Auswanderer sich als Untermieter bei Bekannten in Koblenz anmelden.
Solange das nicht geklärt ist, lassen die Busfahrer keinen einsteigen. Dann aber setzen sie die Passagiere direkt an der jeweiligen Adresse ab. Boris bietet mir ein großes Geschenk an: eine Adresse in Koblenz für meine angebliche einfache Fahrt nach Deutschland. Er könne mir sogar einen Zeitjob, sprich Schwarzarbeit, vermitteln, bis ich mich zurechtgefunden hätte.
Zwei Drittel der Menschen sind weg
Es gibt keine offizielle Statistik, die belegt, wie viele Roma nach Deutschland gezogen sind. Café-Besitzer Georgi führt eine Liste. 300 Familien aus der Siedlung wohnen in Koblenz, sagt er, 200 in Köln. Die Stromgesellschaft in Vidin hat hier insgesamt 900 Kunden. Boris bilanziert: 60 bis 70 Prozent der Roma seien inzwischen ausgewandert. Und nicht nur nach Deutschland: "Frauen kümmern sich um alte Menschen in Italien. Viele sind in England oder Finnland unterwegs. Andere schuften als Saisonarbeiter in Spanien oder Griechenland. Einen Monat Orangen pflücken und du überstehst den Winter."
Boris selbst steht an einem Wendepunkt: Soll er bleiben oder "für immer" nach Koblenz ziehen? "Da werde ich zumindest einen sicheren Job finden", brummt er. Die Entscheidung ist nicht leicht. Für Vidin spricht, dass er hier heimisch ist, Arbeit hat und ein zweistöckiges Haus, samt Kühlschrank, Tiefkühltrue, Waschmaschine, Plasmafernseher und Parkettboden. Aber die Arbeitslosigkeit ist bedrohlich, im vergangenen Jahr lag sie bei 23 Prozent lag. Und allein im März dieses Jahres haben 600 Menschen ihren Job verloren, in der Näherei, der Chemiefabrik oder im Putzbetrieb. Die Lebensqualität in der Roma-Siedlung ist schlecht: Eine Mauer trennt sie von der Stadt. Boris‘ Tochter muss zur Schule einen weiten Umweg gehen. Und das wird nicht von allen gern gesehen: Sie sei schon "zu gebildet", sagen die Menschen, sie müsste eigentlich heiraten. In Deutschland zu leben, das wäre ein Aufstieg, glaubt Boris.
Die Roma in Koblenz haben ihre eigene Idee vom Weiterkommen: Wer sich in Koblenz als Arbeiter bewährt, erzählen die Leute in Vidin, der siedelt nach Köln um und schult seine Kinder dort ein. Die sprechen ohnehin nur noch Deutsch, kein Bulgarisch und auch kein Romanes mehr. Und die erfolgreichsten pilgern weiter nach Frankfurt am Main. Die alten Männer, die auf dem Platz mitten in der Siedlung sitzen und Sonnenblumenkerne knabbern, beobachten eine Nachbarin: "Guck mal, die Gergana*, die geht zur Post. Ihre Mutter hat ihr 300 Euro überwiesen, damit schafft sie den Monat."
Mit einem Fuß im Ausland
Mir raten die Alten: "Geh mal zum Laden und frag nach dem Heft. Da wirst du sehen, wie die Leute auf Pump leben." In dem kleinen Supermarkt auf dem Platz ist das Monatsheft, in dem die Leute ihre Einkäufe anschreiben lassen, Mitte des Monats schon voll. "Anschreiben lassen dürfen nur die, die einen Verwandten im Ausland haben", erklärt die Verkäuferin.
Da kommt Elena* angerannt. Sie ruft täglich ihren Ehemann in Koblenz an, immer mit derselben Frage: Ist er endlich "legal"? "Er hat schon eine Steuernummer", erzählt sie aufgeregt. "Ohne Steuernummer konnte er nur schwarz arbeiten, für sieben Euro in der Stunde. Er musste immer zittern, geschnappt zu werden. Jetzt wird er das Doppelte verdienen, eine Wohnung mieten und mich und das Kind holen."
"Tja, die Elena ist auch bald weg", kommentieren die Alten und machen eine neue Tüte Sonnenblumenkerne auf. Für einen guten Job in Deutschland braucht man einen Führerschein oder einen Beruf in der Baubranche, berichten sie: Dann reicht es für ein Haus in Vidin. "So läuft das: Man verdient in Deutschland und gibt das Geld in Bulgarien aus. Die Häuser hier in der Siedlung - alle gebaut mit Geld aus Deutschland."
* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.