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GesellschaftDeutschland

Altenpflegerin rechnet mit Pflegebranche ab

Grzegorz Szymanowski | Luisa von Richthofen
15. Juli 2020

Hunderttausende Frauen aus Osteuropa pflegen deutsche Senioren in ihren Häusern. Sie stehen rund um die Uhr zur Seite, doch bezahlt werden sie nur für ein paar Stunden am Tag. Dobrina D. ist vor Gericht gezogen.

Bulgarien Dobrina D. / Altenpflegerin
Bild: DW/S. Kamburov

Pflege auf dem Prüfstand

02:45

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Kochen, spülen, die Küche putzen. Medikamente bringen, einkaufen, bügeln. Die Kundin begleiten: zum Arzt, zum Kaffee trinken, an Abenden zu Hause. Als Altenbetreuerin in Deutschland hatte Dobrina D. alle Hände voll zu tun. Und mit "Gute Nacht" war ihr Arbeitstag noch nicht zu Ende. Oft musste die Bulgarin mehrmals in der Nacht aufstehen, um Windeln zu wechseln oder weitere Medikamente zu geben.

Die 96-jährige deutsche Seniorin hatte Dobrina D. stets an ihrer Seite. Schließlich wohnte die Bulgarin in ihrer Wohnung. "Ich musste 24 Stunden zur Verfügung stehen. Es gab keine freien Tage, Zeit für mich selbst hatte ich auch nicht", sagt Dobrina D. Heute ist sie 69 Jahre alt und zurück in Bulgarien. Die Erinnerung an das Jahr 2015, als sie in Berlin die Seniorin pflegte, lässt sie nicht los: "Meine Firma hat mich betrogen."

Gemäß dem Arbeitsvertrag mit ihrer bulgarischen Vermittlungsagentur sollte Dobrina D. nur sechs Stunden am Tag arbeiten. Für diese Zeit wurde sie auch bezahlt: 950 Euro Netto.

Dobrina arbeitete bis 2016 als Betreuerin in Deutschland. Nun verfolgt sie den Prozess von zu Hause in BulgarienBild: DW/S. Kamburov

Sie ist in Deutschland erfolgreich vor Gericht gezogen: Der Arbeitgeber muss ihr 42.000 Euro nachzahlen. Die Summe entspreche der Bereitschaftszeit rund um die Uhr, die auch mit Mindestlohn vergütet werden soll, entschied das Arbeitsgericht in Berlin in erster Instanz. Die bulgarische Agentur ging in Berufung. Die Verhandlung in zweiter Instanz beginnt am 16. Juli.

Viele kennen ihre Rechte nicht

Justyna Oblacewicz vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ist "wahnsinnig gespannt" auf das Urteil. Seit über vier Jahren berät die in Berlin lebende Polin osteuropäische Menschen, vor allem Frauen, die schätzungsweise 300.000 Senioren in deutschen Haushalten pflegen. Geschichten wie die von Dobrina D. hört sie jeden Tag.

"Wir freuen uns sehr, dass sich endlich jemand getraut hat zu klagen", sagt Oblacewicz. Es gebe viele Gründe, warum das erst jetzt passiere, obwohl es seit Jahren Beschwerden gibt. Die Betreuerinnen seien nur kurz in Deutschland, völlig eingespannt, sprächen wenig Deutsch und kennen ihre Rechte nicht.

Justyna Oblacewicz vom Deutschen Gewerkschaftsbund unterstützt Dobrina vor GerichtBild: DW/L. von Richthofen

Viele haben Angst vor einer Kündigung. Die Gerüchte darüber, dass Unruhestifter auf eine Art "schwarze Liste" kämen und nie wieder eingestellt werden, seien allen in der Branche bekannt. Der DGB und Oblacewicz unterstützen Dobrina D. vor Gericht. Sie hoffen, ihrem Beispiel könnten viele weitere Betreuerinnen folgen.

Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt

Das Modell der Betreuerinnen aus dem Ausland macht sich das Einkommensgefälle und Entsendemodelle innerhalb der EU zu Nutze. Praktisch funktioniert das so: Eine polnische Betreuerin schließt den Vertrag mit einer polnischen Vermittlungsagentur ab, die deutsche Familie mit einer deutschen Agentur. Die zwei Firmen schließen dann einen weiteren Vertrag unter sich. Die Betreuerin kommt dann nach Deutschland für ein bis drei Monate. Nach Abzug der Provisionen verdient sie im Durchschnitt etwa 1300 Euro netto im Monat.

Etwa 300.000 deutsche Senioren werden von Frauen aus Osteuropa gepflegt, vor allem aus PolenBild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

Justyna Oblacewicz sieht die Vermittlungsagenturen als Profiteure dieses Modells: "Sie tragen das geringste Risiko und haben große Flexibilität. Und die Leidtragenden am Ende sind die Betreuungskräfte, die dann als Scheinselbstständige in den deutschen Haushalten tätig sind." Denn hinter den vier Wänden in den Familien verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits-, Bereitschafts- und Ruhezeit.

In Gesprächen mit der DW berichten mehrere Frauen, dass sie Probleme bekommen, wenn sie Freizeit einfordern. Wenn Konflikte entstehen, sitzen sie am kürzeren Ende. Oft müssen sie sich dann in kurzer Zeit einem neuen Arbeitsort suchen.

Betreuerinnen aus Osteuropa sind unentbehrlich

Viele der Vermittlungsagenturen tragen die Idee der 24-Stunden-Pflege schon in ihrem Namen: Lebenshilfe24, PeopleCare24, wecare24. Damit wird die Erwartung einer 24-Stunden-Versorgung erweckt. Doch die Agenturen weisen die Schuld zurück. Frederic Seebohm vom Verband für häusliche Betreuung und Pflege sagt: "Es ist ein scharfer Wettbewerb und die Kunden erwarten leider diese Formulierung mit der Zahl 24 im Namen."

Frederic Seebohm, Verband für häusliche Betreuung und PflegeBild: DW/G. Szymanowski

Worin Oblacewicz und Seebohm übereinstimmen: Der deutsche Staat hat sich zu lange aus der Angelegenheit der häuslichen Altenpflege zurückgezogen. Und der akute Pflegekräftemangel macht Alternativen, wie die Umschaltung auf ambulante Pflege, schwer umsetzbar.

Die Deutschen seien darauf angewiesen, mithilfe der Betreuungspersonen aus Osteuropa alte Menschen zu versorgen, sagt Frederic Seebohm: "Es geht gar nicht anders." Die große Mehrheit der Betreuerinnen arbeite sowieso ohne Vertrag und sei nicht geschützt.

Justyna Oblacewicz atmet tief ein: "Wenn dieses Urteil nichts an Arbeitsbedingungen in der Branche ändert, dann weiß ich nicht, was wird."

Dobrina D. beobachtet den Prozess von zuhause in Nessebar an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Sie zeigt sich optimistisch: "Ich möchte meinen Kolleginnen und allen anderen zeigen, dass wir neben Pflichten auch Rechte haben, die wir verteidigen sollten." Mit der Lohnnachzahlung will sie ihren Enkelkindern eine gute Bildung ermöglichen. Sie sollen sich nicht als Niedriglohnarbeiter im Westen abrackern müssen.

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