Das Leben hinter der Mauer
8. April 201530 Tage lang habe ich in der Straße "Tschaika" ("Möwe") gewohnt. Dort kann man mal spazieren gehen, als Adresse ist die Straße aber nicht sehr günstig, wenn man auf der Suche nach einem Job ist. Meine Nachbarin Radostina (Name von der Redaktion geändert) hatte eine Stelle als Verkäuferin ergattert - für gerade mal zwei Tage. Denn als der Arbeitgeber ihre Meldebescheinigung mit der Adresse sah, kündigte er ihr sofort. In der Tschaika-Straße wohnen nur Roma und 48 Prozent der Bulgaren wollen - Umfragen zufolge - nicht in derselben Firma arbeiten wie Angehörige dieser Minderheit.
Am 8. März bin ich in der Roma-Siedlung eingezogen, um den Alltag der Bewohner mitzuerleben und direkt mit ihnen zu kommunizieren. In meinem Rucksack waren viele gute Ratschläge, ein paar wichtige Rufnummern und ein Stadtplan, der sich als völlig nutzlos erwies. Denn auf dem Plan sah es so aus, als wäre die Siedlung direkt mit der Stadt Vidin im Nordwesten Bulgariens verbunden. Doch in Wirklichkeit liegt sie hinter einer kilometerlangen Betonmauer. Ein langer Umweg über den Friedhof führt aus der Siedlung in die Stadt.
Die Kommunalverwaltung sagt, die Mauer sei "aus Sicherheitsgründen" gebaut worden - und habe nichts mit der Diskriminierung von Roma zu tun. Sie trennt die Häuser der Roma von den Eisenbahngleisen und schütze somit die vielen Kinder der Siedlung vor Unfällen. Außerdem sei sie für Fußgänger kein unüberwindbares Hindernis: eine blau angemalte Überführung stehe allen zur Verfügung.
In den Kindergarten durch das Loch in der Mauer
"Meiner Mama tun die Beine weh, sie kann nicht die ganzen Treppen rauf- und runterklettern. Wir schlüpfen lieber durch das Loch", erzählt der fünfjährige Mitko. Jeden Tag steht er um 9 Uhr morgens vor der Mauer, denn sein Kindergarten befindet sich auf der anderen Seite. Vor vielen Jahren hatte die Siedlung noch einen eigenen Kindergarten. Den gibt es aber nicht mehr, also müssen die Kinder in die Innenstadt. Sie alle schlüpfen genau wie Mitko durch das Loch in der Mauer. Wenn sie auf der anderen Seite ankommen, sind die Kleider der Kinder oft schmutzig.
Die Bewohner der Siedlung sind empört über die heuchlerische Erklärung für die Mauer. Es sei eine Schande, es gehe überhaupt nicht um die Sicherheit, erzählen alle hier. Eine 23-jährige Lehrerin bemerkt, man hätte einfach eine Schranke vor dem Gleisübergang montieren können, das wäre dann genug gewesen. Und ein 70-jähriger Rentner weiß zu berichten, dass es 40 Jahre lang ohne Mauer zu keinem einzigen Unfall gekommen sei.
"Das war alles Absicht", sagt auch Dimiter, der gerade seinen Job in der Stadt verloren hat. Arbeitslos geworden ist er nicht, weil er ein Roma ist, sondern weil sein Arbeitsplatz gestrichen wurde. Vidin ist die Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Bulgarien - über 23 Prozent - und im März wurden wieder Hunderte von Jobs abgebaut. Mit Dimiter spreche ich in seinem überfluteten Hinterhof. Hunderte Häuser in der Siedlung sind von Überschwemmungen betroffen: Das Grundwasser kann nicht abgepumpt werden, da es überhaupt keine Pumpanlage gibt. Auf die Frage, wieso das mit der Mauer "Absicht" war, bleibt Dimiter jedoch stumm.
"Wir leben nicht in einem Ghetto"
Aus europäischer Sicht ist die Sache klar: Eine Mauer um eine ethnisch definierte Minderheitensiedlung ist ein klarer Fall von Ghettoisierung - ganz unabhängig von den Argumenten der Mehrheitsbevölkerung oder der Verwaltung. Gerade wenn sie mit Steuergeldern gebaut wurde und hartnäckig von der Verwaltung verteidigt wird, trotz mehrerer Petitionen der Roma aus der Siedlung.
Die politische Dimension wird in Vidin kaum angesprochen, die psychologische Auswirkung auf die Menschen wird aus Scham verschwiegen. Und alle wehren sich vehement gegen die Vermutung, die Siedlung werde auf diese Weise zum Ghetto. "Wir leben nicht in einem Ghetto, wir sind ganz normale Menschen", sagen immer wieder die Gesprächspartner aus der Siedlung. Das Wort "Ghetto" ist für sie eine persönliche Beleidigung, eine Beschuldigung, dass sie nie mehr aus der Ecke "Unterschicht" herauskommen werden. Den Einwand, dass das Wort "Ghetto" eigentlich eine Verurteilung der Mehrheit beinhaltet, die andere ausgrenzt, verstehen sie nicht.
Die Roma-Siedlung in Vidin heißt "Nov Pat", also "Neuer Weg". Der Name klingt ironisch, besonders heutzutage, weil die Siedlung über gar keinen direkten Weg mehr in die Stadt verfügt. Auch der Umweg über den Friedhof funktioniert nicht mehr. Da wird nämlich gegraben: Die Stadt bekommt eine neue Wasserleitung, auf die die Bürger schon lange warten. Was sie aber bisher bekommen haben, sind nur 15 Kilometer unbefahrbare Straßen, einen Skandal wegen veruntreuter Steuergelder und einen Bürgermeister, der der Korruption beschuldigt wird.
"Was noch fehlt, ist eine Ausgangssperre"
Die Roma-Siedlung wird dadurch genauso wie der Rest der Stadt in Mitleidenschaft gezogen. Im Vergleich zu den Vierteln der ethnischen Bulgaren allerdings haben die Roma ein zusätzliches Problem: In der Siedlung werden keine neuen Wasserleitungen angelegt. Man bleibt also hinter der Mauer, ohne jede Zufahrt zur Innenstadt und ohne neue Wasserleitungen.
"Was uns noch fehlt, sind Schlagbäume und eine Ausgangssperre", sagt Dimiter verbittert. Man habe für alles eine scheinheilige Erklärung: Die Mauer sei wegen der Eisenbahngleise gebaut worden und die Wasserleitung dürfe man nicht anlegen, da die meisten Häuser hier ohne Baugenehmigung errichtet worden seien. "Die Schlagbäume kommen ganz bestimmt. Zum Beispiel, um den Metalldiebstahl zu unterbinden." Dimiter findet all dies gar nicht lustig. Für ihn und die anderen Roma ist das Leben in der Siedlung anstrengend. Gespräche mit ihm drehen sich um die Überschwemmungen, die hohe Arbeitslosigkeit, die Kinder. Kein "neuer Weg", kein Ausweg - so weit das Auge reicht.