Marco Reus bleibt der "Unvollendete"
27. Mai 2023Minutenlang lag Marco Reus enttäuscht auf dem Rasen. Der Routinier und Kapitän des BVB verbarg sein Gesicht hinter den Händen, Tränen flossen. Wieder verpasste der 33-Jährige den Meistertitel, den er sich so sehr gewünscht hatte. Dabei war die Chance, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, riesig gewesen. Doch Reus und seine Mannschaftskameraden ließen sie liegen: Der FC Bayern ist wieder Meister.
Dabei hätten so viele nicht nur den Dortmundern, sondern insbesondere Reus die Meisterschaft von Herzen gegönnt. "Der ganze Klub, die ganze Stadt würde sich riesig mit ihm freuen", hatte BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl vor dem Saisonfinale gesagt: "Marco hat hier viele Geschichten geschrieben. Er hat hier viele Jahre sehr, sehr Großes geleistet, er hat wahnsinnig viele Tore geschossen." Allerdings war der Ur-Dortmunder Reus in den vergangenen Jahren auch schon oft eine Art tragische Figur gewesen und hatte immer wieder entscheidende Spiele, ganze Turniere und damit auch in der Bundesliga mit Borussia Dortmund möglicherweise den einen oder anderen Titelgewinn wegen schwerer Verletzungen verpasst.
Über Ahlen und Gladbach zurück zum BVB
Im Grunde - könnte man boshaft sagen - begann die Dortmunder Durststrecke in der Meisterschaft mit dem Wechsel von Reus aus Mönchengladbach zum BVB im Sommer 2012. Damals war Reus 23 Jahre alt. In Dortmund geboren, war er in der Jugend zehn Jahre lang beim BVB ausgebildet, dann aber für zu schmächtig befunden worden, um es in den Bundesligakader zu schaffen. Daher verließ Reus seine Dortmunder Heimat, machte zunächst bei LR Ahlen in der 3. und 2. Liga erste Schritte im Profifußball und entwickelte sich anschließend in drei Jahren bei Borussia Mönchengladbach zu einem herausragenden Bundesligaspieler.
Nun war er gut genug für den BVB und der Wechsel zurück zu seiner Borussia nach Dortmund, die damals unter Jürgen Klopp gerade zweimal in Folge deutscher Meister geworden war, sollte der nächste Karriereschritt für Reus sein. Das Ziel: Titel sammeln in Schwarz-Gelb.
A bis Z aller denkbaren Sportverletzungen
Doch es kam auf schmerzhafte Art und Weise anders: Immer wieder zog sich Reus langwierige Verletzungen zu und konnte dem BVB auf dem Platz nicht helfen. Zudem verpasste er einige große Turniere mit der Nationalmannschaft. Bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien, bei der das DFB-Team den WM-Titel holte, fehlte er wegen eines gerissenen Syndesmosebands. Die Teilnahme an der EM 2016 verhinderte eine hartnäckige Schambeinentzündung, die Reus ein halbes Jahr seiner Karriere kostete. Den Confederations Cup 2017 verpasste er, weil er sich einen Kreuzbandriss zugezogen hatte, der ihn noch länger schachmatt setzte. Sogar bei seinem ersten Titelgewinn, dem Sieg mit Dortmund im DFB-Pokal 2017, musste er zur Pause verletzt ausgewechselt werden.
Muskelfaserriss, Bänderdehnung, Knochenödem, Muskelbündelriss, Adduktorenverletzung und, und, und - die Liste von Reus' Verletzungen liest sich wie ein A bis Z aller denkbaren Sportverletzungen. Macht man sich die Mühe und rechnet alle Ausfallzeiten zusammen, die das Fußball-Portal transfermarkt.de in Reus' Verletzungshistorie auflistet, kommt man auf 1264 Tage seit Juli 2012. Das sind fast dreieinhalb Jahre, in denen Reus verletzt oder nicht fit war. Umso mehr hätte dem mittlerweile 33-Jährigen bedeutet, dass er seine Zeit beim BVB nun nach elf Jahren endlich mit dem Meistertitel gekrönt hätte. "Man hat ihm immer wieder nachgesagt, dass er nie deutscher Meister geworden ist. Das hat ihm immer wieder leidgetan, das hat ihn verletzt", sagte Kehl.
Leidige Fragen nach der Mentalität
Reus und Dortmund waren schon einmal ganz nah dran an der Schale gewesen. Im Dezember 2018 hatte das Team unter Trainer Lucien Favre nach 15 Spielen neun Punkte Vorsprung auf den FC Bayern. Dann aber brach die Mannschaft im Frühjahr 2019 ein. Plötzlich blieben die Siege aus, der komfortable Abstand auf die Bayern schmolz dahin. Mit einem beeindruckenden 5:0-Sieg im direkten Duell zogen die Münchener in der Tabelle am BVB vorbei und wurden am Ende wieder deutscher Meister.
In Dortmund entspann sich daraufhin eine Diskussion, ob die Mannschaft überhaupt in der Lage sei, einen Meistertitel zu gewinnen - eine Diskussion, in deren Fokus immer auch der Kapitän Marco Reus stand. Als am 5. Spieltag der folgenden Saison ein Reporter nach gutem Saisonstart des BVB ein unglückliches Ausgleichstor in letzter Minute erneut zum Anlass nahm, die Mentalitätsfrage zu stellen, platzte Reus der Kragen. "Das geht mir so auf die Eier. Ihr mit eurer Mentalitätsscheiße!", schnauzte er den Fragesteller an und offenbarte, wie tief der Stachel bei ihm saß. "Wir haben uns dumm angestellt beim 2:2, auf jeden Fall. Aber kommt mir jetzt nicht mit eurem Mentalitätsscheiß. Jede Woche immer dieselbe Kacke."
Auch in dieser Saison rückten Fragen zur Dortmunder Mentalität erneut in den Vordergrund. Denn mehrfach nutzte der BVB Patzer des kriselnden FC Bayern nicht, um sich in der Tabelle abzusetzen oder zumindest vor den Münchenern zu bleiben. Tatsächlich "schafften" es die Dortmunder zweimal, die gerade erst ergatterte Tabellenführung gleich wieder zu verspielen - zunächst mit einem vermeidbaren 3:3-Unentschieden in Stuttgart, dann durch ein weiteres Remis in Bochum, bei dem allerdings der Schiedsrichter eine entscheidende Rolle spielte.
Meisterschaft als Krönung der Karriere
Entscheidend ist der Anteil, den Reus zum Erfolg der Borussia beiträgt, scheinbar nicht mehr. Zwar ist er nach wie vor Kapitän, allerdings stand er seit der 2:4-Niederlage gegen den FC Bayern am 26. Spieltag nicht mehr in der Dortmunder Anfangsformation.
Im letzten Spiel der Saison wechselte BVB-Trainer Edin Terzic Reus in der 40. Minute ein. Zu diesem Zeitpunkt stand es 0:2 aus Sicht der Dortmunder. Immerhin peitschte Reus sein Team noch einmal nach vorn, am Ende hieß es 2:2. Nur ein Tor fehlte zum Titel. Wie bitter. Aber irgendwie passte es auch zur Karriere von Marco Reus.
Der Artikel wurde nach dem letzten Spieltag aktualisiert.