Deutsche Regierung will das Land umfassend modernisieren
1. Oktober 2025
Firmenpleiten, Abwanderung ins Ausland, hohe Defizite in der Sozialversicherung, dazu eine unzufriedene Bevölkerung: Nur 22 Prozent der Befragten im jüngsten ARD-Deutschlandtrend von Anfang September zeigten sich mit der Arbeit der Bundesregierung aus den konservativen Unionsparteien CDU und CSU und den Sozialdemokraten zufrieden.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) steht entsprechend unter Handlungsdruck - und rief sein Kabinett zu einer zweitägigen Klausur in die Berliner Villa Borsig, die am Donnerstag (01.10.) zuende ging. "Die längst überfällige Modernisierung unseres Staates muss nun wirklich schnell vorangehen", hatte Merz zu Beginn der Klausur gesagt. "Wir müssen staatliche Leistungen überprüfen, sie müssen effizienter und unkomplizierter werden".
Eile ist geboten, glaubt Merz: "Die Unternehmen stehen zum Teil mit dem Rücken zur Wand oder mit dem Fuß am Abgrund." Die deutsche Volkswirtschaft müsse wieder wachsen, der Standort Deutschland müsse "wieder attraktiv genug für Investitionen" werden.
Ziel: Unternehmensgründung an einem Tag
Der Schwerpunkt der "Modernisierungsagenda" liegt auf dem Abbau von Bürokratie, einer Verschlankung der Verwaltung, einer verstärkten Digitalisierung von Dienstleistungen sowie einem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Verwaltung. Das Faxgerät wird zum Teil immer noch in deutschen Amtsstuben verwendet und ist zum Symbol für den Reformstau geworden. Das Land habe sich über viele Jahre "verknotet", wie sich Karsten Wildberger, Minister für Staatsmodernisierung und Digitales, ausdrückte.
16 Milliarden Euro sollen allein durch Bürokratieabbau bis zum Ende der Legislaturperiode 2029 eingespart und das Personal des Bundes um acht Prozent gekürzt werden.
Es geht um rund 80 Einzelmaßnahmen. Beispiele: Künftig soll man sein Auto über ein deutschlandweit einheitliches Portal anmelden können; bisher gibt es 400 Einzelportale von Ländern und Kommunen. Unternehmensgründungen sollen an einem Tag möglich sein - ebenfalls über ein zentrales Portal.
Für die Anwerbung ausländischer Fachkräfte wird eine digitale "Work-and-stay-Agentur" geschaffen, über die etwa Visumsangelegenheiten oder die Anerkennung von Berufsabschlüssen zentral erledigt werden sollen.
An die Adresse der Europäischen Union gerichtet, sagte Merz nach der Klausur: "Es ist einfach zu viel", zu viel Regulierung, die aus Brüssel komme.
Die AfD sitzt der Koalition im Nacken
Aber es geht nicht nur um Wirtschafts-, sondern auch um politische Machtfragen. In den vergangenen Wochen gab es keine Umfrage mehr, bei der die regierende Koalition noch eine Mehrheit gehabt hätte. Die in Teilen rechtsextreme Partei AfD ist bei einigen Befragungen mit der Union gleichgezogen oder hat sie sogar überholt.
In den östlichen Bundesländern ist die AfD derzeit in den Umfragen überall stärkste Partei, sogar mit großem Vorsprung in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, wo im kommenden Jahr gewählt wird.
Die Koalition hätte näher zusammenrücken müssen, tat es aber lange nicht. Stattdessen wurden die Unterschiede betont und auch nach außen getragen, so dass in der Öffentlichkeit das Bild eines streitenden Haufens entstand - so wie bei der Vorgängerregierung, die vorzeitig auseinanderbrach.
Es fing schon damit an, dass Friedrich Merz im Mai erst beim zweiten Durchgang im Bundestag zum Bundeskanzler gewählt wurde, es gab Abweichler in den eigenen Reihen. Dann wurde die Wahl von Richterinnen und Richtern für das Bundesverfassungsgericht verschoben, als klar wurde, dass Abgeordnete der Unionsfraktion der von der SPD benannten Kandidatin ihre Zustimmung verweigern würden.
Eine gemeinsame Klausurtagung der Fraktionsvorstände in Würzburg im Sommer sollte endlich für Teamgeist sorgen, dann eine gemeinsame Reise der Fraktionschefs nach Kyjiw, ein Grillabend der Koalitionsabgeordneten in Berlin und zuletzt ein Besuch der Parteivorsitzenden auf dem Oktoberfest in München.
Die Kabinettsklausur jetzt in der Industriellenvilla am Tegeler See war nur die jüngste Maßnahme in Teambildung. Es sei gelungen, "eine sehr, sehr gute, sehr kollegiale, sehr offene Arbeitsatmosphäre in dieser Koalition zu schaffen", sagte der Kanzler nach der Klausur. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob er Recht hat.
Reform der Sozialversicherung erst später
Denn die wirklich großen Herausforderungen für die Koalition kommen erst noch, so etwa eine Reform der Sozialversicherungen. Der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung geht das Geld aus. Beitragssteigerungen für die Versicherten und Arbeitgeber würden Arbeit noch stärker belasten und damit die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwächen.
Der Staat hat zwar sehr hohe neue Schulden aufgenommen. Das Geld soll aber nicht in den Konsum fließen, sondern neben der Stärkung der Bundeswehr soll die Infrastruktur auf Vordermann gebracht werden. Bleibt als Ausweg aus Sicht der Koalition zum Beispiel eine Einsparung bei den Leistungen. Damit und mit dem Bürgergeld, der Unterstützung für Arbeitsuchende, beschäftigen sich nun erst einmal verschiedene Kommissionen, die Vorschläge machen sollen, bevor das Kabinett darüber entscheidet.
Merz hatte bereits etwas verfrüht einen "Herbst der Reformen" angekündigt. Als klar wurde, dass es mit einer Jahreszeit nicht getan sein würde, sagte er im Bundestag: "Es wird sich ein Winter, ein Frühling, ein Sommer, ein nächster Herbst anschließen mit Reformen."
Eine neue "Ruck-Rede"?
Die Bundesregierung hofft, dass sie die schlechte Stimmung in Deutschland drehen kann. "Im Prinzip ist unser Hauptgegner die Laune", soll Vizekanzler Lars Klingbeil von der SPD laut Teilnehmern der Klausur gesagt haben. Man sei sich einig gewesen, dass ein Kulturwandel nötig sei, um eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen, hieß es.
Auch über eine mögliche neue "Ruck-Rede" wurde am Rande der Klausur gesprochen, die Bundeskanzler Merz eventuell am Tag der deutschen Einheit, am 3. Oktober, halten könnte. Vor 28 Jahren forderte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen.
"Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen", forderte Herzog damals. Bis zu einer weitreichenden Reformagenda unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder dauerte es danach noch sechs Jahre. So viel Zeit hat die amtierende Regierung nicht.