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Politik

Bundestag hat historische Arbeit geleistet.

Kay-Alexander Scholz
27. Januar 2017

Es gibt noch Kapitel der dunkelsten Geschichte Deutschlands, die nicht breit aufgearbeitet sind. Der Mord an Kranken und Behinderten gehört dazu. Der Bundestag hat in einer Gedenkstunde historische Arbeit geleistet.

Deutschland Holocaust Gedenkstunde des deutschen Bundestages Rede Lammert
Bild: Reuters/A. Schmidt

Es war das erste Mal, dass im Deutschen Bundestag am Holocaust-Gedenktag an die geschätzt 300.000 Opfer der "Euthanasie"-Verbrechen der NS-Diktatur erinnerte. Es war eine außerordentlich bewegende Gedenkstunde, in der auch viele Abgeordneten ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten. Parlamentspräsident Norbert Lammert hielt die Gedenkrede. Er erinnerte an die historische Vorgeschichte der "Rassenhygiene". Daran, dass im "Probelauf zum Holocaust" zum ersten Mal systematisch Menschen vergast wurden, die als Kranke oder Behinderte als "lebensunwert" eingestuft wurden.

Lammert erinnerte daran, dass diese Verbrechen mitten in Deutschland in sechs zentralen "Einrichtungen" und darüberhinaus dezentral verübt wurden. Dass Ärzte, Pfleger und andere daran teilnahmen. Dass es nur wenig Aufbegehren gab. Dass viele Täter später mit Verdienstkreuzen geehrt wurden. "Erschütternd ist auch die jahrelange Gleichgültigkeit in Wissenschaft, Medien und Politik, eine Aufarbeitung fand lange Zeit nicht statt", so Lammert. Wegen der Verdrängung und Verleugnung habe es Jahrzehnte gedauert, bis ein Sinneswandel einsetzte. Erst 2007, so erinnerte Lammert, habe der Bundestag das Zwangssterilisationsgesetz des NS-Regimes geächtet. Erst 2011 seien öffentliche Gelder für das bis dahin auf privater Initiative beschränkte öffentliche Erinnern für einen zentralen "Gedenk- und Informationsort" am Schauplatz in der Tiergartenstraße in Berlin zur Verfügung gestellt worden, wo der Vernichtungsplan entstand.

Die Opfer seien verdrängt und vergessen worden, sagte Lammert. Einzelne, die sich dem Vergessen widersetzten, hätten als "Nestbeschmutzer" gegolten. Doch alle Fakten zur "Euthanasie" blieben ohne Vergegenwärtigung der Opfer abstrakt. "Indem wir ihre Geschichten hören und lesen, an uns heranlassen, geben wir den Opfern posthum wenigstens ihre Würde zurück."

Verschweigen, Verdrängen, Tabuisieren

Hartmut Traub erzählte die Geschichte seines Onkels Benjamin und beschrieb detailliert die "Menschenvernichtungsroutine an 60 Patienten täglich" in Hadamar, wo mehr als 10.000 Menschen vergast wurden. "Und sechs Monate stand über der Stadt gut sichtbar die dunkle Rauchsäule auf dem Mönchsberg." Mit diesem Satz beendete Traub abrupt seine Schilderung, die den alltäglichen Horror beschrieb.

Sigrid Falkenstein: Ermordeten Verwandten Name und Gesicht zurückgeben Bild: picture alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Sigrid Falkenstein erinnerte an das Schicksal ihrer Tante, die als "Schwachsinnige" mit 24 Jahren ermordet wurde. Nur durch Zufall habe sie im Internet überhaupt von ihrer Tante erfahren. Sie konfrontierte ihren Vater damit, der dann kurz vor seinem Tod das erste Mal in seinem Leben gesagt habe: "Ich hatte eine Schwester, die geistig behindert war." Die Großmutter habe im Alter unter schweren Depressionen gelitten. Sie sei Opfer des Teufelskreises aus Verschweigen, Verdrängen und Tabuisieren gewesen, unfähig, damit umzugehen, wahrscheinlich voller Scham und Schuldgefühle. In beiden deutschen Staaten seien die Opfer stigmatisiert worden, sagte Falkenstein. Sie seien ausgeschlossen worden von der Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes. Die Gleichstellung mit anderen Opfergruppen bliebe ihnen bis heute versagt.

Sebastian Urbanski, Schauspieler an einem integrativen TheaterBild: picture alliance / Bernd von Jutrczenka/dpa

Der Schauspieler Sebastian Urbanski las einen Brief von Ernst Putzki an seine Mutter vor. Das erste Mal sprach damit ein Mensch mit Down-Syndrom im Bundestag. Er las den Brief über den gezielten Hungertod, über den Putzki berichtete, eindringlich vor. Das war einer der großartigen Momente dieser historischen Gedenkstunde im Bundestag.

Lammert: Nie wieder!

Am Ende seiner Rede erinnerte Lammert an Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Er müsse "kompromisslose Richtschnur unseres Handelns bleiben". "Ein kategorischer Imperativ, um nie wieder zuzulassen, dass Menschen ausgegrenzt, verfolgt und in ihrem Lebensrecht beschnitten werden." Das sei man den Opfern schuldig, sagte Lammert, der sichtlich bewegt nur schwer Tränen zurückhalten konnte.

Hartmut Traub hatte zu Beginn seiner Schilderung gesagt: "Erinnern ist mehr als bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen. Erinnern geht uns innerlich an." Genau das hat der Bundestag an diesem Holocaust-Gedenktag vorgemacht.

In der "Landesheilanstalt Hadamar" wurden während der Zeit des Nationalsozialismus rund 15.000 Menschen getötetBild: picture-alliance/dpa
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