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PolitikAsien

Berlin analysiert den Afghanistan-Einsatz

26. September 2022

Eine Enquete-Kommission des Bundestages will die deutsche Afghanistan-Mission aufarbeiten und Empfehlungen für zukünftige Einsätze geben.

Symbolbild Bundeswehreinsatz in Afghanistan
Deutsche Flagge und Flagge der internationalen ISAF-Truppe im Feldlager FaisabadBild: Maurizio Gambarini/dpa/picture-alliance

Gut 20 Jahre war die Bundeswehr in Afghanistan vor Ort. Im Rahmen der NATO-Missionen ISAF und "Resolute Support" kämpfte sie mit anderen Streitkräften unter Führung der USA und an der Seite der afghanischen Regierungsarmee gegen die aufständischen Taliban. Gleichzeitig sollte sie einen Beitrag zur Entwicklung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten in Afghanistan leisten.

Aber trotz des gewaltigen Einsatzes an Material, Geld und Personal konnte der Westen und damit auch die Bundeswehr die erneute Machtübernahme der Taliban nicht verhindern. Nach dem endgültigen Abzug der NATO-Kräfte im Sommer 2021 – als letzte verließen amerikanische Soldaten am 30. August das Land – gab es für die Taliban keinen ernsthaften Gegner mehr.

Taliban-Kämpfer feiern den ersten Jahrestag der Machtübernahme in Kabul am 15. August 2022Bild: Ali Khara/REUTERS

Was also lief falsch während dieser 20 Jahre? Das herauszufinden ist Aufgabe der Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, die sich vergangene Woche konstituierte. Im Unterschied zu dem bereits im Sommer eingesetzten parlamentarischen Afghanistan-Untersuchungsausschuss, der sich mit den Umständen des Abzugs der Bundeswehr und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen befasst, analysiert die Enquete-Kommission Stärken und Schwächen des gesamten Einsatzes. Ziel der 24 Ausschuss-Mitglieder - zur Hälfte Abgeordnete, zur Hälfte Sachverständige - ist es, aus den Erkenntnissen Lehren für die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen.

"Wie konnte das passieren?"

"Es ist unser Anspruch, selbstkritisch und in Zusammenarbeit mit den Akteuren das politische Mandat und die Arbeit der Regierung und des Parlaments zu beleuchten", sagt Michael Müller (SPD), Vorsitzender der Kommission, gegenüber der DW. "Vor allen Dingen wollen wir einen Einblick davon gewinnen, wie die Akteure vor Ort zusammengearbeitet haben und welche Chance sie hatten, ihren Auftrag zu erfüllen."

Florierende Koranschulen angesichts versperrter Bildungswege für MädchenBild: Ebrahim Noroozi/AP/picture alliance

Erkenntnisse sei man auch den Afghaninnen und Afghanen schuldig, sagt Schahina Gambir, für Bündnis 90/ Die Grünen in der Kommission vertreten. "Die Uhren sind im August 2021 in Afghanistan wieder zurückgestellt worden", so Gambir im DW-Interview. "Das gilt besonders für die Frauen und Mädchen: Die Hälfte der Bevölkerung ist auf den afghanischen Straßen nicht sichtbar. Die Minderheiten sind wieder in Gefahr. Wir sind zurückgekehrt zum Zustand von vor 20 Jahren. Wie konnte das passieren? Das aufzuklären, sind wir allen Beteiligten schuldig, den Afghanen ebenso wie jenen, die sich über Jahre in dem Land auf so unterschiedliche Weise engagierten."

Ersten Erkenntnissen zufolge gab es Schwachstellen ganz unterschiedlicher Art. Eine gründete in dem Umstand, dass die Bundeswehr im Rahmen internationaler Dachmandate agierte, sagt Serap Güler (CDU), die stellvertretende Vorsitzende der Kommission. "Das nahm Deutschland die Chance, an den Zielen und Aufträgen mitzuwirken und entsprechende Fragen nach dem Ziel der Missionen zu stellen. Stattdessen hat Deutschland die Vorgaben eins zu eins übernommen", so Güler im DW-Gespräch.

"Unerreichbare Ziele"

Tatsächlich seien die Vorgaben und Ziele häufig unklar formuliert gewesen und seien mit der Zeit immer umfassender geworden, bemerkt die Politologin Ursula Schröder, die die Kommission als Sachverständige berät. "Die Mission begann als Anti-Terror-Einsatz und sollte dann auch weitere Ziele leisten bis hin zu Staatsaufbau und Friedensförderung." Das habe nicht funktionieren können, so die Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. "Denn es kommt darauf an, realistische Ziele klar zu entwerfen und deren Umsetzung kontinuierlich zu prüfen. Diese Prüfung gab es nicht. So wurde nicht hinreichend klar, dass einige Ziele unerreichbar waren. Wenn das der Fall ist, scheitern Interventionen zwangsläufig."

Zeremonie zum Ende des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, bei dem 59 Soldaten ums Leben kamenBild: Torsten Kraatz/Bundeswehr/BMVG/dpa/picture alliance

Jenseits unklarer Vorgaben und mangelnder Revision habe die Mission vor enormen ortsspezifischen Problemen gestanden, so Schröder weiter. "Es ist aus der Forschung sehr klar, dass es schwierig und in einigen Fällen unmöglich ist, von außen in einem durch Gewalt, Konflikte und schlechte Regierungsführung geschwächten Land eine komplexe Staats- und Gesellschaftsordnung zu errichten." Dies gelte auch für Afghanistan. "Das Land ist durch den langen Krieg und die damit verbundene Gewalt in jeder Hinsicht erschüttert. In diesem Umfeld ist Staatsaufbau extrem schwierig."

Mangelnde Kenntnis des Landes und seiner Menschen

Womöglich habe man sich mit dem politischen und historischen Kontext des Landes nicht hinreichend auseinandergesetzt, sagt Michael Müller. Dies habe dazu beigetragen, dass die Erfolge des Einsatzes räumlich sehr begrenzt waren. "Wir müssen eingestehen, dass das, was in Kabul gelungen ist, in weiten Teilen des Landes nicht gelungen ist. Das dürfte auch daran gelegen haben, dass die Menschen auf dem Land zu ihrer Regierung, zu ihren Verantwortlichen aus Afghanistan, wenig Verbindungen und wenig Vertrauen hatten."

Alltag unter den Taliban: Frauen in Kabul warten auf Verteilung von NahrungsmittelhilfeBild: Ali Khara/REUTERS

Die schlechte Regierungsleistung dürfte durchaus zum Scheitern der Mission beigetragen haben, sagt Serap Güler. Denn fielen entscheidende Regierungsleistungen aus, seien die Menschen auch für die Prinzipien einer fortschrittlichen Politik nicht mehr erreichbar. "Viele Menschen haben in einer solchen Situation schlicht andere Sorgen", so Güler. "Sie müssen sehen, dass sie genug zu essen haben, dass ihre Kinder eine Schulbildung erhalten, dass sie ganz generell ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen. All dies erzeugt unter den Umständen vor Ort einen derartigen Druck, dass Ideen wie Rechtstaatlichkeit oder Demokratie relativ abstrakt erscheinen. Die Menschen brauchen konkrete Erfahrungen, was diese Normen bedeuten und ihnen nützen. Dann können sie damit auch etwas anfangen."

Man habe die Zivilbevölkerung zu wenig im Blick gehabt, diesen Eindruck hat auch Schahina Gambir. "Wir müssen ganz klar prüfen, inwiefern die afghanische Bevölkerung und Zivilgesellschaft eingebunden war. Wurde ihnen unser Verständnis von Demokratie und Rechtstaatlichkeit einfach aufgezwängt? Deckten sich unsere Ziele mit denen der afghanischen Gesellschaft? Fragen dieser Art dürften auch für die Zukunft sehr wichtig sein."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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