Hochburg der Nichtwähler
23. August 2021Mirze Edis kann die Kilometer, die er schon in seinem Stadtteil unterwegs war, nicht mehr zählen. Präsent sein auf der Straße, mit den Leuten reden, so versteht der 49-jährige Bundestagskandidat der Linken aus dem Wahlkreis Duisburg I seine politische Arbeit. Lässig gekleidet mit Jeans, T-Shirt und Sneakers spricht er fast jeden an. Mal will er wissen, wie es geht, mal, wo der Schuh drückt. Mal deutsch, mal türkisch, je nachdem.
Es ist ein schwieriger Wahlkreis. Gerade einmal 22 Prozent der Wahlberechtigten haben bei der letzten Kommunalwahl 2020 gewählt. In dem armen Stadtteil sind die Menschen von der Politik enttäuscht und erschöpft. Etwa 20.000 Einwohner aus 136 Nationen leben in dem einstigen Stahlarbeiter-Viertel. Die meisten sind auf soziale Hilfe angewiesen.
Auch Mirze Edis hat den Niedergang seines Stadtteils von klein auf erlebt. Seine Eltern zogen 1975 aus der Türkei nach Duisburg-Hochfeld. "Es ist ein Stadtteil, der in den letzten 30 Jahren sehr von der Politik vernachlässigt worden ist. Wir hatten hier einmal ein Stadtbad. Wir hatten Jugendzentren, die zugemacht haben", erzählt Edis, der sich schon früh gewerkschaftlich engagiert hat. Er will, dass die Menschen hier ihr Leben in die Hand nehmen, sprich: auch politisch Einfluss nehmen. Doch den meisten fehlt dazu die Kraft.
Alle Kraft geht für das Jetzt drauf
In einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung von 2010 heißt es: "Dort, wo die Wahlbeteiligung niedrig ist, ist die Quote alleinerziehender Frauen doppelt so hoch, der Migrantenanteil dreimal, die Arbeitslosenquote viermal, der Anteil öffentlich geförderter Wohnungen zehnmal so hoch." All das trifft auf Duisburg-Hochfeld zu. Elf Jahre nach dieser Studie hat sich die Situation sogar verschärft. Die soziale Ungleichheit hat zugenommen. Wer sich sozial ins Abseits gedrängt sieht, bleibt meist der Wahlurne fern.
Günter Spikofski, Chef der Tafel, die Lebensmittelspenden an Bedürftige verteilt, hat dafür eine einfache Erklärung: "Arme Leute haben andere Sorgen als zu wählen. Die müssen sehen, wie der Kühlschrank gefüllt wird. Wer Politik macht oder politische Konzepte wählt, muss langfristig denken können. Wer aber jeden Tag improvisieren muss, braucht all seine Ressourcen für das Jetzt." Jetzt satt werden, jetzt ein Dach über dem Kopf finden, jetzt Geld auftreiben für den Schulausflug der Kinder.
Wie anstrengend das Jetzt für manche ist, kann man bei der Lebensmittelausgabe der Tafel sehen. Untergebracht auf Kirchengelände, bildet sich schon lange vor der Öffnung eine lange Schlange. Viele Rentner, Arbeitslose, Einwanderer. Die resolute Martina Tiedchen, die seit zwei Jahren ehrenamtlich hier arbeitet, organisiert den Einlass. So sehr sie sich auch bemüht, ihnen zu helfen, manche überfordert es, einen Nachweis zu besorgen, der bestätigt, dass sie auf kostenlose Lebensmittel angewiesen sind. Andere verstehen nur Farsi oder Arabisch. Da muss Frau Tiedchen passen.
Sie glauben, dass sich ja doch nichts ändert
400 Haushalte, fast 2000 Menschen wöchentlich, versorgt die Tafel in Duisburg-Hochfeld mit Lebensmitteln. Viele Armutsrentnerinnen stehen mit ihrem Einkaufsrolli hier an. Den meisten ist es peinlich, hier gesehen zu werden. Sie verübeln der Politik, dass diese sie in diese Situation gebracht habe.
Eine Frau, Anfang sechzig, die ihren Namen nicht nennen möchte: "Ich habe immer gewählt, gemacht und getan, aber als ich jahrelang meine Mutter gepflegt habe, da ging es nicht. Nee, ich gehe nicht mehr wählen."
Auch Amela Jakupi, die wir auf der Straße treffen, fühlt sich nicht wertgeschätzt. Vor dreißig Jahren kam sie nach Deutschland und ist heute entsetzt, wie heruntergekommen ihr Stadtteil ist. Obwohl, wie sie sagt, die Stadt von ihr immer mehr für die Straßenreinigung verlange. Da müsse man sich nicht wundern, wenn die Leute nicht mehr wählten. Egal mit wem wir sprechen, niemand glaubt, dass sich nach der Wahl etwas ändert. Also, warum überhaupt zur Urne gehen?
Auch die Neueinwanderer misstrauen der Politik
Mittlerweile ist Mirze Edis an den Hochfelder Arkaden angelangt. Die Einkaufsstraße ist zentraler Treffpunkt für die Hochfelder. Trinkhallen wechseln sich mit Spielhallen ab, es gibt zahlreiche Juweliere und Handyläden. Feinkostgeschäfte oder schöne Boutiquen sucht man vergeblich. In den Seitenstraßen findet man jede Menge bulgarischer Imbissläden oder Bistros. Alteingesessene Hochfelder machen sie dafür verantwortlich, dass es hier keine schönen Geschäfte mehr gibt.
Mirza Edis möchte die Neueinwanderer aber als Bereicherung verstanden wissen: "Die Läden haben nicht zugemacht, weil die Menschen aus Rumänien und Bulgarien gekommen sind, sondern weil die deutsche Bevölkerung sich aus diesem Stadtteil verabschiedet hat. Und ich bin froh, dass jetzt wieder hier Leben einzieht. Und für die Stadt ist es gut, Gewerbeeinnahmen zu haben."
Nirgendwo in Duisburg wurden so viele Bulgaren und Rumänen wie hier in Hochfeld untergebracht. Bei den Kommunalwahlen hätten die Südosteuropäer wählen können, weil sie EU-Bürger sind. Was sie aber fast alle nicht gemacht haben.
Mirze Edis, der auch Betriebsrat bei den Hüttenwerken Krupp-Mannesmann ist, beobachtet, dass die Neueinwanderer Gewerkschaften und der Politik erst einmal misstrauen. "Die Neueingewanderten wissen gar nicht, was die Parteien machen, wofür die stehen. Aufgrund der Erfahrung in ihren Herkunftsländern halten sie diese für korrupt und machen lieber einen weiten Bogen um sie."
Demokratie wird zum Eliteprojekt
Die Folgen sind fatal, wenn die Einkommensschwachen nicht mehr wählen gehen. In der Studie der Hans-Böckler-Stiftung heißt es, "dass Unzufriedenheit häufig zu Apathie und dem Verzicht auf politische Teilhabe, nicht aber zu Protest führt".
Auch Tafelchef Spikofski denkt, dass die Politik die Armen nicht fürchten muss und deshalb ihre Belange bisher nicht ernst genug nimmt. "Ich glaube, die Frustration steigt, aber die Armen werden keine Revolution anzetteln, und deshalb bleibt es so, wie es ist."
Mirze Edis will nicht, dass es so bleibt, wie es ist. Es sollen nicht nur die Gebildeten und Reichen wählen gehen. Deshalb wird er in seinem Viertel noch viele Kilometer gehen, um Alteingesessene und Neueinwanderer wieder für die Demokratie zu gewinnen. Und er kämpft für ein Direktmandat, um in den Bundestag einzuziehen. "168 Stimmen haben mir bei der Kommunalwahl nur gefehlt, um der Kandidat mit den meisten Stimmen zu werden", so Edis voller Selbstbewusstsein. Er wäre dann einer der wenigen Parlamentarier ohne Hochschulabschluss, aber eine Stimme mehr für die Armen.