Bundesverfassungsgericht kippt Luftsicherheitsgesetz
15. Februar 2006Die Karlsruher Richter gaben den Verfassungsbeschwerden der früheren FDP-Spitzenpolitiker Burkhard Hirsch und Gerhart Baum sowie weiterer vier Kläger statt. Sie hatten das Luftsicherheitsgesetz als Preisgabe fundamentaler Rechtssätze kritisiert.
Menschenleben gegeneinander abwägen?
Die Kardinalfrage war: Darf die Bundesregierung im Notfall ein Passagierflugzeug abschießen lassen, wenn dieses von Terroristen als Waffe benutzt wird? Nicht ohne Grund hatte Bundespräsident Horst Köhler "erhebliche Bedenken", das Luftsicherheitsgesetz zu unterschreiben.
Das Grundgesetz garantiert das Recht auf Leben und Menschenwürde, wobei der Staat sich nicht anmaßen darf, ein Leben als rettenswerter zu betrachten als ein anderes. Durch einen Abschuss aber würde das Leben der Passagiere und Besatzungsmitglieder geopfert, um dafür möglicherweise das Leben anderer Menschen zu retten.
Eine Abwägung von Leben gegen Leben beim möglichen Abschuss eines Passagierflugzeugs widerspreche dem Grundgesetz, wandte Köhler vor zwei Jahren ein, als die rot-grüne Bundesregierung das Gesetz durchsetzte. Seit Januar 2005 war es in Kraft.
Menschenwürde geht vor
Der Bundespräsident empfahl, das Luftsicherheitsgesetz durch das höchste deutsche Gericht überprüfen zu lassen. Das sagte nun Nein: Unschuldige würden zum bloßen Objekt einer staatlichen Rettungsaktion gemacht. "Der Schutz der Menschenwürde ist strikt und einer Einschränkung nicht zugänglich", sagte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier am Mittwoch in Karlsruhe. So sahen es auch die Kläger, die den Fall vor das Bundesverfassungsgericht brachten. "Der sichere Tod der an Bord befindlichen Passagiere und Crew steht ja gegenüber einem prognostizierten Gewinn an Leben von irgend jemandem, was man ja noch nicht weiß", sagt der Berufspilot Hans Albrecht.
Das Grundgesetz enthalte derzeit auch keine Ermächtigung zum Einsatz der Bundeswehr zur Terrorabwehr. "Der Einsatz der Streitkräfte zu anderen Zwecken als zur Verteidigung ist nach geltendem Verfassungsrecht an enge Voraussetzungen gebunden", erläuterte Papier. Den Abschuss eines ausschließlich mit Terroristen besetzten Flugzeug hielt das Gericht dagegen - eine Grundgesetzänderung vorausgesetzt - grundsätzlich für regelbar.
"Szenario praktisch ausgeschlossen"
Während sich über derart schwierige Rechtsfragen vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA niemand Gedanken gemacht hatte, ist dieses Szenario seither die Horrorvorstellung aller Verteidigungsminister. Als Anfang 2003 ein geistig verwirrter Mann in einem Kleinflugzeug über der Frankfurter Innenstadt kreiste, war das Maß endgültig voll. 2004 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der rot-grünen Regierungskoalition das Luftsicherheitsgesetz.
Der damalige Innenminister Otto Schily hielt den Abschuss eines Flugzeugs für möglich - unter folgenden Bedingungen. "Es müssten in einem solchen Fall zwei Parameter zusammenkommen", erklärte er damals. "Es müsste klar sein, dass das Leben der Menschen in der Passagiermaschine schon verloren ist. Das heißt, dass der Geschehensablauf, der Kausalablauf, nicht mehr anders zu beurteilen ist - mit vollständiger Gewissheit. Und gleichzeitig müsste noch ein Eingreifen möglich sein."
Ein solches Szenario sei "praktisch ausgeschlossen", argumentierte Schily während der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht im November 2005. Daher hatte er auch kein Problem mit dem Abschussparagraphen, den er eher für den Fall eines gekaperten Kleinflugzeugs für geeignet hielt.