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Wer wird zuerst behandelt? Gericht kippt Triage-Regeln

4. November 2025

Wenn in einer Krise auf Intensivstationen kein Platz ist, müssen Ärzte entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht. Vor drei Jahren wurden dazu in Deutschland Regeln aufgestellt. Doch die sind nicht verfassungskonform.

Deutschland Bremen 2025 | Eine Mitarbeiterin auf der Intensivstation vom Diako-Klinikum in Bremen-Gröpelingen schiebt einen Wagen mit einem Defibrillator zu einem Notfall (12.05.2025)
Intensivstation in Bremen (Archivbild)Bild: Sina Schuldt/dpa/picture alliance

Es geht um Leben, Tod - und Zuständigkeiten: Wie sollen Ärztinnen und Ärzte bei knappen Ressourcen entscheiden, wenn in einem Krisenfall zu viele Schwerverletzte oder Todkranke ins Krankenhaus eingeliefert werden? Eine Frage, die sich in der Corona-Pandemie zumindest im besonders betroffenen Norden Italiens ganz konkret stellte.

Deutschland wollte vorsorgen, um Mediziner zu entlasten, aber auch um vulnerable Gruppen zu schützen, wie zum Beispiel Menschen mit Behinderung. Noch zu Pandemiezeiten stellte der Bundestag 2022 für die sogenannte Triage im Infektionsschutzgesetz neue Regeln auf. Doch Intensiv- und Notfallmediziner sahen einen Konflikt mit ihrem Berufsethos.

Behandlung eines Corona-Patienten in Bergamo, Italien (2020)Bild: Filippo Venezia/ANSA/picture alliance

Am Bundesverfassungsgericht konnten sich einige von ihnen nun erfolgreich gegen die gesetzlichen Vorgaben wehren. Der Erste Senat gab zwei entsprechenden Verfassungsbeschwerden statt. Die Neuregelung sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und daher nichtig. Sie schränke Ärztinnen und Ärzte in ihrer Berufsfreiheit ein.

Was heißt Triage?

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb "trier", das "sortieren" oder "aussuchen" bedeutet. Es beschreibt, dass Ärztinnen und Ärzte in bestimmten Situationen entscheiden müssen, in welcher Reihenfolge sie Menschen helfen. Das Konzept gibt es zum Beispiel bei großen Unglücken mit vielen Verletzten, um meist eine kurzfristige Notlage zu überbrücken.

Mit seiner Neuregelung kam der Deutsche Bundestag eigentlich einem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach. Deutschlands oberste Richter hatten 2021 entschieden, dass der Staat die Pflicht hat, Menschen vor Benachteiligung wegen einer Behinderung zu schützen. Denn es bestand die Sorge, dass Ärztinnen und Ärzte sich im Falle einer Notlage dazu entschließen könnten, Menschen ohne Vorerkrankung oder Behinderung vorzuziehen.

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Bild: Bonn.digital/picture alliance

Die Abgeordneten hatten vor ihrem Beschluss wissenschaftliche Empfehlungen eingeholt. Das Gesetz von 2022 legte fest, dass über eine Zuteilung "nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" zu entscheiden ist - ausdrücklich nicht nach Lebenserwartung oder Grad der Gebrechlichkeit.

Kritik der Ärztinnen und Ärzte

Eine der beiden Verfassungsbeschwerden gegen die Neuregelung war vom Ärzteverband Marburger Bund unterstützt und 2023 von 14 Intensiv- und Notfallmedizinern eingereicht worden. Sie richtete sich unter anderem gegen das im Gesetz geregelte Verbot einer nachträglichen Triage ("ex post") - also, dass die Behandlung eines Patienten mit geringer Überlebenswahrscheinlichkeit abgebrochen wird, um einen Patienten mit besserer Prognose zu versorgen. 

Der Marburger Bund kritisierte, den Ärztinnen und Ärzten werde die Möglichkeit genommen, in einer Notlage die größtmögliche Zahl an Menschen zu retten. Durch die Triage-Regelungen würden ihnen Entscheidungen aufgezwungen, "die ihrem beruflichen Selbstverständnis an sich widersprechen und sie in eklatante Gewissensnöte bringen", teilte der Verband 2023 zur Klage mit.

Grundgesetz schützt Berufsfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht betonte in seiner Entscheidung nun die im Grundgesetz geschützte Berufsfreiheit. Diese gewährleiste, dass Ärztinnen und Ärzte frei von fachlichen Weisungen seien. Die deutsche Verfassung schütze - im Rahmen therapeutischer Verantwortung - auch ihre Entscheidung über das "Ob" und "Wie" einer Heilbehandlung.

Der Bund könne sich bei den Vorschriften auch nicht auf seine im Grundgesetz verankerte Kompetenz zur Regelung von Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten stützen, erklärte das Gericht weiter. Diese gelte nur für gewisse Maßnahmen, die sich auf die Eindämmung oder Vorbeugung von Krankheiten richteten. Die Triage-Regeln knüpften hingegen lediglich an die Auswirkungen einer Pandemie an, dienten aber nicht der Pandemiebekämpfung.

Laut Verfassungsgericht ist auch nicht der Bund für so eine Regelung zuständig. Es sind aus Sicht der Karlsruher Richterinnen und Richter die Bundesländer. Die Zuteilung knapper Ressourcen in einem solchen Fall müsse nicht unbedingt gesamtstaatlich geregelt werden. Ärztliche Entscheidungen könnten "grundsätzlich lokal nach unterschiedlichen Vorgaben getroffen werden".

Warken will notwendige Schlüsse ziehen

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken kündigte an, dass die Bundesregierung den Beschluss "sehr genau prüfen und zusammen mit den Ländern die notwendigen Schlüsse daraus ziehen" werde. Eine rechtssichere Regelung in solchen Ausnahmesituationen für Betroffene und für Ärztinnen und Ärzte werde gebraucht.

Bundesgesundheitsministerin WarkenBild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Der Staat habe eine Schutzpflicht gegenüber seiner Bevölkerung. "Dies gilt ohne jegliche Einschränkung, auch für Menschen mit einer Behinderung." Die Schutzpflicht sei nicht verhandelbar und müsse auf ein rechtssicheres Fundament gesetzt werden, betonte Warken in einer ersten Reaktion. Zugleich dürfe die Berufsfreiheit von Ärzten nicht unangemessen eingeschränkt werden.

Ethikrat verwundert über Verfassungsurteil

Der Vorsitzende des deutsche  Ethikrats, Helmut Frister, zeigt sich verwundert über die Karlsruher Entscheidung. Der Bundestag habe 2022 die gesetzlichen Regelungen auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts beschlossen. Die höchsten Richterinnen und Richter hätten zuvor angemahnt, dass der Gesetzgeber eine Regelung treffen müsse, die verhindere, dass insbesondere Menschen mit Behinderung bei der Triage diskriminiert würden.

Jetzt habe das Bundesverfassungsgericht geurteilt, der Bundesgesetzgeber hätte das gar nicht tun dürfen, sondern das falle in die Gesetzgebungskompetenz der Länder. "Davon war in der damaligen Entscheidung keine Rede", sagte Jurist Frister der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Er zeigte sich skeptisch, ob die Länderparlamente jetzt zügig eine neue Regelung beschließen können. "Das Bundesverfassungsgericht empfiehlt da ein koordiniertes Vorgehen." Das heißt, es müsse "vielleicht über die Gesundheitsministerkonferenz koordiniert werden"", gibt der Ethikratsvorsitzende zu Bedenken. "Aber ob wir überhaupt jetzt eine solche Regelung kriegen, das halte ich für sehr ungewiss", so Frister.

AR/gri (dpa, kna, afp)

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