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Politik

Wendet sich Deutschland von der NATO ab?

Teri Schultz
19. Oktober 2017

Ein neues Buch beschreibt eine Neuorientierung im sicherheitspolitischen Denken in Deutschland, weg von der NATO, hin zur EU. Der Autor vermisst aber die dafür nötigen Voraussetzungen.

Symbolbild Deutschland Bundeswehr Soldaten
Bild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Führende deutsche Sicherheitsexperten betrachten die USA nicht mehr als wichtigsten Verbündeten und meinen, Berlin solle sich in Verteidigungsfragen mehr auf die EU statt auf die NATO konzentrieren. Dies ist das Ergebnis einer Umfrage unter rund 200 Verteidigungsexperten aus Politik, Unternehmen, internationalen Organisationen und den Medien, die die Brüsseler Denkfabrik Friends of Europe zusammen mit einem Buch veröffentlicht hat. Darin wird behauptet, das wirtschaftlich stärkste Land Europas habe bisher in Verteidigungsfragen auf Kosten seiner Partner gelebt und müsse nun mehr für seine Verteidigung tun.

Der Autor der Studie, der Journalist Paul Taylor, meint, Angela Merkels Welt habe sich in den letzten Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert, und nun müsse sich die Kanzlerin selbst ändern. "Zwei schwere Schocks haben Merkel aus einer gewissen verteidigungspolitischen Selbstgefälligkeit geholt, und ebenso haben sie Deutschland in seiner bequemen Position in der Mitte Europas erschüttert, umgeben von NATO-Verbündeten und EU-Partnern", sagt Taylor gegenüber der Deutschen Welle. Die beiden Schocks, das seien die russische Annexion der Krim 2014 und die Flüchtlingskrise von 2015 gewesen. "Sie hat dabei Entscheidungen getroffen, die ihre politische Karriere gefährdeten, aber die Ereignisse haben auch ihre Sicht der Welt und ihr Blick auf Europa verändert." Taylor behauptet, Merkel habe sich Landkarten mit einer farblich markierten Schengen-Zone anfertigen lassen, so dass für jeden ins Auge stach, dass Deutschlands 'Grenzen' in Wahrheit die zu Russland und der Ukraine, Nordafrika und zum Nahe und Mittlere Osten sind.

Autor Taylor: Deutschland hat andere die Drecksarbeit machen lassenBild: DW/T. Schultz

Taylor sagt, Merkel habe gemerkt, dass sie die Bundeswehr durch jahrelange Haushaltskürzungen geschwächt habe. 2016 habe sie aber eine Wende eingeleitet. Trotzdem werde es sehr lange dauern, um die Kürzungen aus der Vergangenheit auszugleichen, schätzungsweise 15 Jahre, um zum Beispiel die Luftwaffe auf Vordermann zu bringen. Taylor glaubt, das Problem sei nicht das Geld, sondern die Mentalität. Deutschland habe den finanziellen Spielraum, mehr für Verteidigung auszugeben, und trotz der historischen Lasten gebe es für Deutschland keine Ausrede, anderen Ländern die "Drecksarbeit" zu überlassen. "Der Schatten der Geschichte macht es den Deutschen so schwer, aber gleichzeitig ist das so bequem."

Ohne mehr Geld geht es nicht

Merkel hat eine mögliche Kursänderung schon angedeutet. Ihr berühmter Satz "Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen" bezog sich auf Donald Trumps zweideutige Äußerungen zur kollektiven NATO-Verteidigung, die er zu relativieren schien. Doch mit Verteidigungsausgaben von nur 1,2 Prozent des Sozialprodukts liegt Deutschland weit unter der NATO-Selbstverpflichtung von zwei Prozent, und es ist höchst unwahrscheinlich, dass amerikanischer Druck, wie groß er auch sein mag, daran etwas ändern wird.

Ulrike Francke von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations glaubt sogar, Druck aus Washington bewirke das Gegenteil und fördere eine sicherheitspolitische Neuorientierung Deutschlands Richtung EU. "Die Regierung Trump untergräbt die wachsende Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung, mehr für Verteidigung auszugeben und sich mehr zu engagieren", so Francke, "weil Trump als Kriegstreiber gilt und sich die Deutschen sorgen, die USA unter Trump könnten einen Krieg anfangen und die NATO und damit auch Deutschland mit hineinziehen."

Ressourcen zusammenlegen: Gemeinschaftsprojekt EurofighterBild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

EU als Ausweg?

Alice Billon-Galland vom European Leadership Network, einer friedensorientierten gemeinnützigen Organisation, nennt die Geschichte gemeinsamer europäischer Verteidigungsinitiativen "eine Reihe verpasster Gelegenheiten". Doch es gebe vielversprechende neue Initiativen. Eine davon ist die SSZ (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit).  Die Idee ist, Ressourcen zusammenzulegen und Lücken in den gesamteuropäischen Verteidigungsfähigkeiten zu schließen. Auch Deutschland und Frankreich stehen hinter der SSZ. "Es herrscht allgemein der Eindruck, jetzt sei die Zeit, wirklich etwas zu tun", sagt Billon-Galland. Frankreich und Deutschland haben bereits angekündigt, sie wollten ein neues gemeinsames Kampfflugzeug entwickeln und damit auch eine engere europäische Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen vorantreiben.

Doch egal, wieviel Merkel und ihre künftigen Regierungspartner künftig in die Verteidigung stecken - Taylor glaubt, die Dinge müssten sich grundlegend ändern. Er schlägt zum Beispiel vor, der Bundestag müsse bestimmte Bundeswehr-Einsätze der NATO und anderer multinationaler Verbände pauschal vorab genehmigen statt wie heute jede einzelne Mission. Taylor spricht sich auch für eine Lockerung der Waffenausfuhrbestimmungen aus und hielte es für effizienter, wenn Rüstungsexportbestimmungen EU-weit formuliert und durchgesetzt würden.

Taylor schreibt: "Auf dem Papier ist die EU in den zwölf Monaten seit dem Brexit-Referendum auf dem Weg zu einer europäischen Verteidigungsunion weiter gekommen als im gesamten vorangegangenen Vierteljahrhundert." Taylor gesteht zwar ein, das Ende britischer "Blockaden" durch den Ausstieg aus der EU werde die Entscheidungsprozesse in Zukunft beschleunigen, er rät aber Berlin und Paris, weiterhin die Zusammenarbeit mit Großbritannien zu suchen, das von allen Ländern Europas am meisten für Verteidigung ausgibt.

Auch in Verteidigungsfragen wollen Deutschland und Frankreich enger zusammenrückenBild: Getty Images/V. Kalnina

Jetzt oder nie

Während Taylors Buch einerseits versucht, angebliche Defizite deutscher Verteidigungspolitik aufzuzeigen und seiner Meinung nach veraltetes Denken zu entlarven, glaubt der Autor andererseits, dass "für einen großen Schritt nach vorn die Sterne selten günstiger standen". Dies würde jedoch voraussetzen, dass sich Deutschland und Frankreich über die Bedrohungsprioritäten einig wären und wie man ihnen am besten begegnet. "Die Vereinbarung müsste Frankreichs Vorliebe für schnelle, harte Militärinterventionen mit Deutschlands Neigung zu einem ganzheitlichen Ansatz verbinden, der darauf zielt, Konflikte zu vermeiden, und der auch die Instrumente für Stabilisierungsmaßnahmen nach einem Konflikt, Staatsaufbau und Wiederaufbau liefert", schreibt Taylor. Doch "wenn Europas zwei führende Gründerstaaten einen Kompromiss finden", gibt sich Taylor überzeugt, "werden die meisten anderen Mitgliedsstaaten sofort mitmachen."

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