C the Unseen
20. Januar 2025Chemnitz und 38 weitere Kommunen der Region sind 2025 europäische Kulturhauptstadt. Ein breiter kultureller Veranstaltungskalender, an dem sich auch die Kirchen beteiligen, lädt in diesem Jahr Menschen aus ganz Europa, aber auch darüber hinaus, dazu ein, die Region zu erkunden.
Das Motto, mit dem sich die Stadt Chemnitz bereits 2018 am Bewerbungsverfahren der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 beteiligt hat, lautet „C the Unseen“. Dieser Satz spielt mit der doppelten Bedeutung des Buchstabens "C": Er steht einerseits für Chemnitz und bedeutet gleichzeitig im Englischen "sehen" (to see). Frei übersetzt heißt es "Das Ungesehene entdecken". Hinter diesem Slogan verbirgt sich eine bemerkenswerte Tiefe, die auf verschiedenen Ebenen Resonanz findet.
Einerseits wird Chemnitz in der Landschaft sächsischer Städte gern übersehen, gilt als weniger attraktiv und ist darüber hinaus von historischen und gesellschaftlichen Brüchen geprägt. Besonders die Nachwirkungen der Nachwendezeit und die Ereignisse um das Stadtfest 2018 haben das Bild der Stadt nachhaltig beeinflusst. Damals kam es nach einem tödlichen Messerangriff auf einen jungen Mann zu heftigen Protesten, die von rechtsextremen Gruppen instrumentalisiert wurden und zu Ausschreitungen führten, die bundesweit Aufmerksamkeit erregten. Doch Chemnitz ist weit mehr als diese Brüche. Innerhalb der Stadt und der dazugehörigen Kulturhauptstadtregion verbergen sich zahlreiche inspirierende Orte und Geschichten, die es verdienen, ans Licht gehoben zu werden.
Uns Christen trifft das Kulturhauptstadtmotto mitten ins Herz und liefert die beste Vorlage, auf verschiedenste Weise daran anzuknüpfen. Die Einladung, das Ungesehene zu schauen, hat für uns eine besondere Bedeutung. Wir verstehen es als Auftrag, tiefer zu schauen: auf die Menschen, die im Verborgenen wirken, auf die unentdeckten Schätze in unserer Gesellschaft und letztlich auch auf die kulturelle Vielfalt und das Potential in Stadt und Region.
So lesen wir das "C" im Kulturhauptstadtmotto nicht nur für Chemnitz, sondern auch für Christus, der oft als der "Verborgenste" wahrgenommen wird. In Chemnitz sind wir mit 12 Prozent Christen (davon 3 Prozent katholisch) selbst ungesehen und würden gern mehr wahrgenommen werden, aber es geht uns vor allem um die oft übersehenen Menschen, ihre Taten und deren Wirkung - all jene also, die im Stillen und Verborgenen arbeiten, und die eigentlich ganz in "unserem" Sinne die Welt zu verändern versuchen. Darüber hinaus haben wir Christen ja schon eine jahrtausendealte Geschichte, ja vielleicht sogar Übung darin, das Ungesehene sehen zu lernen: Christus im Verborgenen zu suchen und manchmal sogar aufzuspüren.
Chemnitz zeichnet sich durch eine besondere Gemeinschaft kreativer Menschen aus, die im Kontext der Kulturhauptstadtbewerbung als "Maker" bezeichnet werden. Dieser Begriff umfasst weit mehr als das industrielle oder handwerkliche Schaffen. Er beschreibt auch Menschen, die aktiv ihre Umgebung gestalten, Netzwerke schaffen und gesellschaftliche Prozesse anstoßen. Diese Menschen tragen entscheidend dazu bei, das verborgene Potenzial der Stadt sichtbar zu machen: Sie sind Macher des Miteinanders, als Gestalter des eigenen Lebensumfeldes und der Prozesse, die angestoßen werden wollen.
Diese versteckten Schätze der Stadt bleiben verborgen, wenn man nicht darauf aufmerksam macht - genau deshalb verdient Chemnitz einen zweiten Blick, um seine Geschichte und kulturelle Vielfalt neu zu entdecken.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang gern von einer Sehschule: lernen, genau hinzuschauen und auf das zu achten, was sich unserem Alltagsblick oft entzieht. Dieses Nichtgesehene will erkannt und wertgeschätzt werden, bevor es im Schatten verschwindet. Es geht darum, einen bewussten Blick zu entwickeln, der das Übersehene und Verborgene wahrnimmt. Dieser Prozess erfordert eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung: weg von oberflächlicher Betrachtung hin zu einem tiefen, aufmerksamen Schauen.
Am 18. Januar eröffnete die Stadt Chemnitz das Europäische Kulturhauptstadtjahr. Die christlichen Gemeinschaften haben es bereits am 1. Advent - mit Beginn des neuen Kirchenjahres - eingeläutet, und die Adventszeit in den Auftakt einer europäischen Verbundenheit integriert.
Eine der wichtigsten Aufgaben wird es sein, Chemnitz so zu präsentieren, dass der Fokus in der Öffentlichkeitswahrnehmung eben nicht mehr auf den Verwerfungen liegt, sondern auf dem Potenzial, das in der Stadt und ihren Menschen steckt. Das Ungesehene sichtbar machen, Neugier wecken, andere begeistern, sich kreativ beteiligen, Netzwerke schaffen, die nachhaltig tragen - das ist die große Chance, die wir mit dem, was Kulturhauptstadt heißt, nutzen wollen und müssen.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.
Zur Autorin:
Ulrike Lynn ist in Erfurt geboren. Sie studierte Philologie und Philosophie an der TU Berlin, wo sie auch zum Thema Nonverbale Kommunikation promovierte.
Nachdem sie längere Zeit am Lehrstuhl Germanistische Sprachwissenschaft an der TU Chemnitz tätig war, studierte sie berufsbegleitend Grundschul- und Kreativitätspädagogik und arbeitete bis 2003 als Lehrerin in Chemnitz. Wieder berufsbegleitend absolvierte sie bis 2024 ein Fernstudium der Theologie in Würzburg.
2023 wurde Ulrike Lynn dann zur Beauftragten der katholischen Kirche für die europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 ernannt. Heute lebt sie mit ihrer Familie am Stadtrand von Chemnitz.