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Politik

Deutschtürken finden Kritik an der Türkei einseitig

17. Dezember 2016

Der türkische Journalist Can Dündar zieht nach massiven Protesten eine geplante Laudatio auf den Pianisten Fazil Say zurück. Wie stark ist der Einfluss türkischer Politik in Deutschland? Caner Aver zu den Hintergründen.

Deutschland Köln Pro-Erdogan-Demonstration
Bild: picture alliance/dpa/O. Berg

Der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar, in der Türkei wegen Enthüllungen über Waffenlieferungen zu knapp sechs Jahren Haft verurteilt, sollte am Samstag eine Laudatio auf den türkischen Pianisten Fazil Say halten. Say nimmt an diesem Tag den Beethovenpreis für Menschenrechte entgegen. Nach massiven Protesten in sozialen Netzwerken haben Dündar und  die Bonner Beethoven Academy als Veranstalter sich darauf verständigt, dass Dündar die Laudatio nicht halten wird.

DW: Herr Aver, Can Dündar wird die Laudatio nach teils vehementen Protesten in den sozialen Netzwerken auf Fazil Say nicht halten. Wie bewerten Sie diesen Entschluss?

Caner Aver: Solch eine Reaktion war aufgrund der politischen Polarisierung in der Türkei zu erwarten. Beide, Can Dündar und Fazil Say, werden als Oppositionelle seit mehreren Jahren durch konservativ-religiöse Kreise angefeindet, weil sie sich offen gegen die Politik der regierenden AKP stellen und wegen ihrer politischen Haltung als Vaterlandsverräter diffamiert. Ihre internationale Bekanntheit  verschärft die Stimmung gegen beide zusätzlich. Diese Polarisierung erleben wir seit mehreren Jahren auch unter den Auslandstürken. Die Türkei steht seit einigen Jahren vor massiven innen- wie außenpolitischen Problemen: der Terror der PKK und der linksradikalen DHKP-C, des sogenannten „Islamischen Staats" und dazu die Probleme mit der FETÖ-Organisation der Gülen-Anhänger, die des Putsches vom 15. Juli 2016 beschuldigt werden. Zudem steht das Land vor der Herausforderung einer zunehmenden Entfernung von demokratischen Prinzipien, der Gewaltenteilung, der gesellschaftlichen und systematischen Ausgrenzung von Andersdenkenden. Zugleich muss es die gewaltige Herausforderung  der durch den syrischen Bürgerkrieg bedingten Flüchtlingssituation bewältigen. All das bedroht die Sicherheit, den gesellschaftlichen Frieden und die territoriale Integrität des Landes, weshalb oppositionelle Stimmen gerade im aktuellen Ausnahmezustand immer stärker auch leichtfertig des Verrats am Vaterland bezichtigt werden. 

Seitdem der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in den Jahren 2008 und 2014 - damals noch im Amt des türkischen Ministerpräsidenten - zwei Reden vor Anhängern in Köln hielt, sind in Deutschland die Sorgen wegen eines womöglich übergroßen Einflusses der türkischen Politik auf die Deutschtürken gewachsen. Wie sehen Sie diese Sorge?

Caner Aver arbeitet am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in EssenBild: Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung

Der Einfluss der türkischen Politik durch alle politischen Parteien steigt seit den nuller Jahren an - und zwar nicht nur der der AKP. Der Diskurs um die gesellschaftliche Transformation in Deutschland wird vor allem mit Blick auf deren Defizite geführt. Das hat in Teilen der deutschtürkischen Gesellschaft zu Identitäts- und Zugehörigkeitskonflikten geführt. Zeitgleich geriet der EU-Beitrittsprozess besonders wegen der ablehnenden Haltung durch Deutschland und Frankreich ins Stocken. In dieser Situation wurden Auslandstürken in Ankara als Wahlvolk und zugleich als Lobbygruppe identifiziert, die dann durch die AKP umworben und damit sowohl für innen- als auch außenpolitische Zwecke eingesetzt wurden und werden. Durch die steigenden politischen Spannungen zwischen beiden Ländern fühlen sich besonders konservativ-religiöse Kreise der Türkei und ihrem Präsidenten verbunden und auch durch ihn repräsentiert.

Wie eng sind die Bindungen konservativer türkischer Verbände in Deutschland an die Türkei? Wie offen sind sie für Worte aus der AKP, zumindest aber dem politischen Ankara?

Die Verbände sowie ihre Mitglieder unterliegen formaljuristisch der deutschen Gesetzgebung. Strukturell sind sie mit der Türkei, bis auf die DITIB, offenkundig nicht verbunden. Ideell aber verstehen sich einige Verbände als Auslandsvertretung und Lobbyorganisation ihrer Parteien. Sie sorgen sich zunehmend um die Sicherheit und territoriale Integrität ihres Herkunftslandes. Darum scheint es in der deutschen Öffentlichkeit, als bestünde in den Verbänden eine Diskrepanz zwischen ihrem satzungsmäßigen Auftrag und ihrer tatsächlichen Ausrichtung. Aus Sicht der Verbände wiederum fehlt es in Deutschland an Empathie angesichts der Terroranschläge in der Türkei. Auch kritisieren sie die deutsche Haltung in der Flüchtlingsfrage und gegenüber dem gescheiterten Putsch. Aus ihrer Sicht ist die Darstellung innenpolitischer Entwicklungen verzerrt. Allerdings besteht in der Tat seit Jahrzehnten ein Austausch zwischen den Verbänden und Parteien aus Deutschland und der Türkei, was durch die zunehmenden politischen Spannungen immer stärker in der öffentlichen Wahrnehmung steht. Deshalb ist ein gewisser Einfluss der Politik in die hiesigen Verbände durchaus vorhanden. Der muss sich aber nicht immer anti-integrativ auswirken.

DW: Wie ist der Diskussionsstand innerhalb der gesamten türkischstämmigen Gemeinde in Deutschland? Wie treten die liberalen den konservativen Stimmen entgegen?

Der ideologische Graben in der Türkei zieht sich ebenfalls durch die Reihen der Deutschtürken, und er wird zunehmend tiefer. Jegliche Kritik an der Politik des Staatspräsidenten, der das Land de facto im Alleingang führt, gilt insbesondere nach dem gescheiterten Putsch als Vaterlandsverrat. Zudem sind die Medien weitgehend gleichgeschaltet, weshalb es kaum mehr einen  kritischen Diskurs über die aktuellen politischen Entwicklungen gibt - etwa der Umgang mit dem Terror, die anhaltend negative wirtschaftliche Entwicklung, die Arbeit an einer neuen Verfassung und die Einführung eines Präsidialsystems. Dieses wird von der AKP im Alleingang, in Zusammenarbeit nur mit der national-konservativen MHP entwickelt, es gibt daher keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens.

Politisch interessierte Deutschtürken positionieren sich entsprechend. Foren des offenen, sachlichen und kritischen Diskurses scheint es kaum mehr zu geben, da die zahlenmäßige Dominanz der AKP-Anhänger häufig Diskussionen im Keim erstickt und Kritiker mit dem Vorwurf des Vaterlandsverrats angefeindet werden. 

Wie sollte eine offene Diskussionskultur aussehen? Inwieweit ist diese in Deutschland erreicht – und inwieweit nicht?

In Teilen der Deutschtürken, auch unter den AKP-Gegnern, herrscht der Eindruck, dass Deutschland und der Westen hinsichtlich der Türkei mit zweierlei Maß misst. Plakativ werden hier etwa die Demonstrationen für Demokratie und gegen den Putsch am 31. Juli 2016 in Köln angeführt. Einige Deutschtürken  kritisieren, dass die Loyalitätsfrage und Integrationsfähigkeit in Zweifel standen, obwohl das Demonstrationsrecht als Grundrecht für alle Bürgern und Bürgerinnen besteht. Zugleich bemängeln sie, dass eine vergleichbare Debatte mit Blick auf zahlreiche der PKK nahestehende Organisationen und ihrer Demonstrationen nicht stattfindet - und das, obwohl die PKK in Deutschland als Terrororganisation eingestuft ist. Deshalb werden Berichterstattung und öffentlicher Diskurs besonders nach Terroranschlägen mit erhöhter Aufmerksamkeit verfolgt. Aus Sicht der Deutschtürken gibt es in Deutschland kaum Anteilnahme, obwohl die Erwartungshaltung durch die enge Verbundenheit beider Länder sehr hoch ist. Sie nehmen das als eine Glaubwürdigkeitskrise der Institutionen, der Politik und der Medien wahr. Allerdings fehlt diese offene Diskussionskultur auch in großen Teilen der deutschtürkischen Community, wo die Parteien ihren Wahrheitsanspruch verteidigen, populistische Argumentationen hervorbringen und andere Meinungen kaum zulassen. Hier besteht ein großer Nachholbedarf.

Caner Aver ist Diplom-Geograph mit dem Schwerpunkt politische Geographie. Am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen forscht er unter anderem zu Transnationalität und den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union.

Das Gespräch führte Kersten Knipp.

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika