Seit jeher vereint das Filmfestival Hollywood-Glamour mit Politik. Während des Kriegs in der Ukraine mutet der altbekannte Spagat mitten zwischen einer Zombie-Komödie als Eröffnungsfilm und "Top Gun" bizarr an.
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Dieses Jahr scheint es in Cannes zwei ganz unterschiedliche Filmfestspiele zu geben. Zum einen hat das Festival nach zwei Jahren Corona sein Versprechen eingelöst, das "Kino zurückzubringen". Es ist eine freudige und maskenfreie Zelebration von großen Filmen und Filmschaffenden. Die roten Teppiche voller Prominenter, die Partys wild und die Filme - vom Tom Cruise' Blockbuster "Top Gun" bis zu Cristian Mungius' rumänischem Kleinstadtdrama R.M.N. - so mitreißend und bewegend, wie Kino nur sein kann.
Schaulaufen an der Cote d'Azur
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Auf der anderen Seite ist da die harte Wirklichkeit, so wie der brutale Krieg in der Ukraine, der einem das Feiern verleidet. Bei der Weltpremiere von George Millers "Dreitausend Jahre Sehnsucht", einer Art Erwachsenenmärchen wie aus 1001 Nacht mit Tilda Swinton und Idris Elba, entblößt sich eine Frau auf dem Roten Teppich: Die Farben der ukrainischen Flagge prangen auf ihrem halbnackten Körper, der Schriftzug "Hört auf, uns zu vergewaltigen" quer über ihrer Brust.
Zwei Tage später, bei der Premiere von Ali Abbasis Wettbewerbsfilm "Heilige Spinne", der Geschichte eines Prostituierte mordenden Serienkillers im Iran, stoppt ein Dutzend Frauen auf der Treppe zum Kino, lässt schwarzen Rauch aufsteigen und entfaltetet ein Banner mit den Namen von 129 seit dem letzten Filmfestival im Juli 2021 in Frankreich brutal ermordeten Frauen.
Cannes 2022: Filme im Schatten des Kriegs
Das Filmfestival in Cannes zeigt eine enorme Bandbreite an Filmen - von blutigen Zombie-Thrillern über Liebesgeschichten bis hin zu politischen Dokumentationen.
Bild: Tobias Hase/dpa/picture alliance
Solidarität mit der Ukraine
Auch die Filmfestspiele in Cannes zeigen sich angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine solidarisch. Die Festspielleitung schloss offizielle russische Vertreter sowie russische Filmschaffende aus. Einzig der in Deutschland lebende Regisseur Kirill Serebrennikov wurde zum Wettbewerb zugelassen.
Bild: Vianney Le Caer/Invision/AP/picture alliance
Russischer Filmbeitrag: "Tschaikowsky's Wife"
Serebrennikovs Film "Tschaikowsky's Wife" ("Tschaikowskis Frau") wurde mit der Begründung zum Wettbewerb zugelassen, dass keine russischen Fördergelder geflossen seien, der Regisseur in Russland unter Hausarrest stand und seit seiner Freilassung im Exil in Deutschland lebt. Der Film handelt vom berühmten Komponisten Tschaikowski, der eine junge Frau heiratet, um seine Homosexualität zu verbergen.
Bild: Kirill Serebrennikov/Hype Film, 2022
Sergei Loznitsa: Regisseur aus der Ukraine
Sergei Loznitsa (im Bild) ist der wohl renommierteste Filmemacher der Ukraine. Sein Film "The Natural History of Destruction" läuft in Cannes außerhalb des Wettbewerbs. Ein junger Kollege von ihm ist ebenfalls vertreten: In "Schmetterlingsvision" erzählt Maksim Nakonechnyi eine surrealistische Geschichte einer Kämpferin, der Pilotin Lilja. Inzwischen ist Nakonechnyj an der Front.
Bild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance
Krieg im Film
Der Regisseur Mathieu Vadepied widmet sich in seinem Film "Father & Soldier" ("Vater und Soldat") einem historischen Krieg: ein senegalesischer Vater meldet sich 1917 zur Armee, nachdem sein 17-jähriger Sohn zwangsverpflichtet wird, um für Frankreich im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Die Rolle des Vaters übernimmt der französische Filmstar Omar Sy, weltweit bekannt durch die Netflix-Serie "Lupin".
Bild: Marie-Clémence David-2022/Unité/ Korokoro/Gaumont/France 3 Cinéma/Mille Soleils/Sypossible Africa
Rock'n'Roll-Legende kehrt zurück
Der australische Regisseur Baz Luhrmann, der für Kassenschlager wie "Moulin Rouge" und "William Shakespeares Romeo + Julia" bekannt ist, drehte ein Biopic über Elvis Presley. Die Rock'n'Roll-Legende wird gespielt von US-Schauspieler Austin Butler, der Film läuft außer Konkurrenz.
Bild: Prod.DB/IMAGO
Jurypräsident Vincent Lindon
Nachdem im letzten Jahr der US-amerikanische Regisseur Spike Lee der Jury vorsaß, wird die Ehre dieses Jahr einem Franzosen zuteil: dem Schauspieler Vincent Lindon. Im vergangenen Jahr spielte er die männliche Hauptrolle in "Titane", der die Goldene Palme gewann. Lindon selbst wurde bei den Filmfestspielen 2015 als Bester Darsteller für seine Rolle in "Der Wert des Menschen" gewürdigt.
Bild: Daniel Fouray/dpa/MAXPPP/picture alliance
Humorvoller Eröffnungsfilm
Eröffnet werden die diesjährigen Festspiele durch die Zombiekomödie "Coupez!" ("Schnitt!") des französischen Regisseurs Michel Hazanavicius. Auch dieser Film läuft außer Konkurrenz. Der Regisseur beteiligte auch seine Familie an dem Film: In diesem Ausschnitt sind neben Lyes Salem (l.) auch Raika Hazanavicius (m.) und Simone Hazanavicius (r.) zu sehen.
Bild: Filmfest Cannes/dpa/picture alliance
Altbekannte Gesichter
Die Regisseure, die in Cannes um die Goldene Palme konkurrieren, sind wohlbekannt: Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda (im Bild) gewann 2018 bereits eine Goldene Palme für seinen Film "Shoplifters" ("Ladendiebe"). Auch sein südkoreanischer Kollege Park Chan-wook, sowie US-Legende David Cronenberg und der schwedische Regisseur Ruben Östlund nehmen am Wettbewerb teil.
Bild: picture-alliance/dpa/xim.gs
Beschämend wenige Frauen
21 Filme wurden zum Hauptwettbewerb zugelassen, nur vier davon sind von Frauen gemacht. Bruni Tedeschi (im Bild) bewirbt sich mit ihrem Film "Forever Young" ("Für immer jung"), Léonor Serraille präsentiert mit "Mother and Son" ("Mutter und Sohn") eine Migrationsgeschichte zwischen der Elfenbeinküste und Paris und Claire Denis erzählt in "Stars at Noon" von einem Paar in Nicaragua.
Bild: Marco Provvisionato / ipa-agency/picture alliance
"Showing Up"
Die US-amerikanische Regisseurin Kelly Reichardt ist die vierte im Bunde der weiblichen Regisseurinnen im Wettbewerb: Ihre Komödie "Showing Up" (im Deutschen etwa "Aufkreuzen", "Kommen", "Da sein") handelt von einer Bildhauerin, die neben einer Ausstellungseröffnung auch noch den ganzen anderen Wahnsinn des Lebens meistern muss. Michelle Williams (im Bild) spielt die Hauptrolle.
Bild: A4/Film Science
Eine etwas andere Kaiserin Elisabeth
Im Nebenprogramm "Un Certain Regard" ("Ein Besonderer Blick") darf sich Österreichs Marie Kreutzer Hoffnung auf eine Auszeichnung machen. Sie schickt ihren Film "Corsage" ins Rennen. Darin lehnt sich im Jahr 1877 die Kaiserin Elisabeth gegen das Korsett des Kaiserhofes auf, der ihr abverlangt, stets jung, dünn und wunderschön auszusehen. Die 17 anderen Wettbewerbsbeiträge stammen von Männern.
Bild: Manuel Romano/NurPhoto/picture alliance
Keine Deutsche im Wettbwerb, aber ...
... in der Sektion "Un Certain Regard" ist die in Berlin geborene deutsch-französisch-iranische Regisseurin Emily Atef mit "More than Ever" ("Mehr denn Je") vertreten. Der Film widmet sich einer Frau in ihren Dreißigern, die zufrieden in Bourdeaux lebt, bis überraschend eine Lungenkrankenheit bei ihr festgestellt wird.
Bild: Tobias Hase/dpa/picture alliance
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Fliegerstaffel als Marketingmaßnahme
Bei der Premiere von "Top Gun: Maverick" dröhnt eine Staffel französischer Kampfjets über den Roten Teppich - eine donnernde Werbetrommel für den Actionfilm aus Hollywood und - ganz wie das Original aus dem Jahr 1986 - gleichzeitig gekonnte Reklame für die Militärindustrie der USA. Viele am Boden schaudert es. Einige Gäste - etwa die Filmemacher aus der Ukraine - suchen Schutz unter den Tischen, überzeugt, dass ein Bombenangriff bevorsteht.
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Das Festival hat sich schier zerrissen beim Versuch, Europas größte Filmparty zu feiern und trotzdem das Augenmerk auf die Misere jenseits der Croisette zu richten. Bei der Eröffnungsnacht wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj live aus Kiew zugeschaltet. Er richtete das Wort an einen Raum voller Filmemacher und Journalisten, betonte, wie wichtig es für das Kino sei, nicht zu schweigen und dass die Ukraine den Krieg gewinnen werde. Zeremonie vorbei, Vorhang auf für den Eröffnungsfilm: "Final Cut", eine französische Zombie-Komödie. Was für eine Schizophrenie.
Einen ähnlichen faden Beigeschmack gab es bei Premiere des Films "Triangle of Sadness" (deutsch: "Dreieck der Traurigkeit"): Ruben Östlunds schrille (aber sehr witzige) Satire auf den Kapitalismus. Eine Yacht voller Superreicher erleidet Schiffbruch, die Passagiere stranden auf einer verlassenen Insel, auf dem die Putzfrau, die als einzige fischen und Feuer machen kann, zur Anführerin in der sozialen Hackordnung aufsteigt; das Werk ist einer der Lieblinge im Wettbewerb um die Goldene Palme. Doch den Film anzuschauen, inmitten einer Menge privilegierter und gestylter Frauen und Männer der Film-Elite, war an Ironie kaum zu überbieten.
Ukrainische Filmschaffende in Cannes
Ähnlich unwirklich waren die Gespräche mit ukrainischen Filmemachern in Cannes: Viele von ihnen hatten gerade noch im Krieg an der Front gekämpft, bevor es dann im Flugzeug nach Südfrankreich ging, wo sie etwas über ihre Filme erzählen - und die Situation in ihrem Land.
Regisseur Maksim Nakonechnyi sitzt in der Mittagssonne auf einem großen Balkon mit Sicht auf den Hafen von Cannes, als er über seinen Film "Butterfly Vison" spricht. Das Drama, das in der Wettbewerbs-Sektion "Un Certain Regard" läuft, erzählt die Geschichte einer ukrainischen Soldatin, die mit den posttraumatischen Folgen der Kriegserfahrung ringt.
Nakonechnyi räumt ein, wie seltsam es ist, am glamourösesten Filmfestival der Welt teilzunehmen, während sein Land nur wenige tausend Kilometer entfernt ums Überleben kämpft. Doch der ganze Glanz von Cannes könne auch helfen, einen höheren Zweck zu erfüllen, wenn er der Ukraine Aufmerksamkeit verleihe.
"Es ist für uns wichtig, hier zu sein, damit ukrainische Filme und Geschichten gesehen und gehört werden", sagt Nakonechnyi. "Vor dem Krieg wurde die ukrainische Perspektive an den Rand gedrängt oder ignoriert. Es gab diese falsche Wahrnehmung, dass wir nur Teil einer größeren, post-sowjetischen Kulturgeschichte seien. Das war ein Resultat der russischen Propaganda. Das ist nun vorbei, und es gibt kein Zurück. Die Welt sieht uns nun in unserer eigenständigen Identität, in all ihren Aspekten: kulturell, politisch, soziologisch, existentiell und metaphysisch. Eine Ukraine mit ihrer eigenen postkolonialen Identität."