Cannes: Wenig Lob, viel Kritik
25. Mai 2006Vielleicht waren die Erwartungen einfach zu hoch: Sofia Coppolas neuer Film "Marie Antoinette" erntete nach der Pressevorführung am Mittwoch (24.5.06) in Cannes Buh-Rufe. "Das ist wirklich sehr enttäuschend", war der einzige Kommentar der 35-jährigen Regisseurin auf der anschließenden Pressekonferenz. Schnellen Trost gab es von der Sängerin und Schauspielerin Marianne Faithfull, die in Coppolas Film über die französische Königin Marie Antoinette deren Mutter spielt. "Es gab ja auch Buhs nach dem 'Da Vinci Code', und wir haben alle gesehen, wie sich der Film behauptet hat."
Wie ein Video-Clip
Anders als in ihrem Hit "Lost in Translation", der mit Tiefgang und lakonischem Humor überzeugte, spielt Coppola jetzt die "Mädchenkarte" aus. Die Tochter von Francis Ford Coppola hat selbst einen Ruf als modische Stilikone zu verteidigen. Sie schwelgt in Kostümen, Ausstattung und der Üppigkeit des Original- Drehorts Versailles. Die Geschichte der naiven Prinzessin aus Wien, die als 14-Jährige nach Frankreich geschickt wird, um mit Louis XVI. einen Thronfolger zu produzieren, erstickt in Seide und süßem Gebäck. 40 Millionen Dollar hat "Marie Antoinette" gekostet.
Konfrontiert mit den strengen Regeln des französischen Hofes und enttäuscht vom sexuellen Desinteresse ihres Mannes, entwickelt sich Marie Antoinette erst zum Partygirl, dann zur gereiften Mutter. Sofia Coppola interpretiert das sehr modern und locker. Ihr Film ist sinnlich und sexy wie ein langer Video-Clip mit moderner Musik von Bands wie New Order. Dass sie an der Oberfläche des eigentlichen Dramas kleben bleibt, liegt vor allem an Kirsten Dunst als Titelheldin. Die junge Amerikanerin aus "Spiderman" verjagt auch als politisch missbrauchte, verunsicherte Marie Antoinette alle Ängste und Schrecken mit einem unpassend patenten Cheerleader-Lächeln.
Ernsthafte Konkurrenz
Dass Kommunikation ein kompliziertes Bedürfnis ist, erfahren die Festivaliers in Cannes nicht nur, wenn sie mitten im Party-Getöse feststellen, dass das Handy-Netz zusammengebrochen ist. Auch "Babel", der Wettbewerbsbeitrag des Mexikaners Alejandro Gonzáles Inárittu, dreht sich um Kommunikation, Verständigung und Vorurteil. Sein Film ist nicht nur ein durchkomponiertes Drama mit Stars wie Brad Pitt und Cate Blanchett, sondern auch ein philosophischer Kommentar über Zufall und Schicksal, Kinder und Eltern, Terrorangst und Aggression.
Inárritu erzählt mit allen Mitteln, die das Kino bietet, von Menschen, die ein kleiner Zufall von ihrem Weg abbringt. "Babel" war der herausragende Film in der zweiten Hälfte von Cannes. Er dürfte der bislang einzige sein, der Pedro Almodóvars zu Beginn des Festivals gezeigten "Volver" beim Rennen um die Goldene Palme ernsthaft Konkurrenz machen kann.
Einsamer Wachmann
Der Finne Aki Kaurismäki ist ein Meister darin, existenzielle Gefühle in Bildern kondensieren zu lassen. Manche nennen seinen Stil lakonisch, aber mitunter schreien sie die Befindlichkeit ihrer Helden förmlich heraus. "Laitakaupungin valot" - Lichter im Staub - führt das Thema fort, das er eigentlich in allen seinen Filmen anschlug: Einsamkeit.
Diesmal geht es um einen Wachmann, den eine Femme Fatale - ohne sein Wissen - in ein Verbrechen verwickelt, und für das er zwei Jahre Gefängnis verbüßt. Wie so oft bei dem finnischen Regisseur zählen allerdings Handlung und Dialoge wenig und die Inszenierung alles. Als ihn eine Freundin fragt, wie es im Gefängnis war, antwortet der Wachmann Koiskinnen nur: "Man konnte nicht raus."
Wachmann Koiskinnen ist ein Schweiger, wie alle Helden im Universum des Minimalisten Kaurismäki. Und manchmal genügt Kaurismäki auch nur eine Geste, ein Ausstattungsdetail, das mehr sagt als Tausend Worte. Vielleicht ist "Lichter im Staub" nicht Kaurismäkis bester Film, aber eine schöne Variation seines unverwechselbaren Stils.
Al Gore als Umweltschützer
Fünfeinhalb Jahre nach seiner Niederlage gegen George W. Bush bei der Präsidentschaftswahl ziert Al Gores Porträt wieder die Titelseiten. Sein Comeback erlebt der 58-Jährige nicht als Politiker, sondern als Filmstar. Der Dokumentarstreifen "An Inconvenient Truth" - Eine unbequeme Wahrheit, der beim Filmfestival in Cannes vorgeführt wurde und diese Woche in die US-Kinos kommt, schildert den Einsatz des früheren Vizepräsidenten für den Schutz des Erdklimas.Der Film hat Spekulationen angeheizt, Gore könnte 2008 einen neuen Anlauf auf das Weiße Haus wagen. Diese Spekulationen können bisher auch nicht von Gore selbst gestoppt werden, der entschieden dementiert. Er habe das Leben als Wahlkämpfer hinter sich gelassen und Spaß daran, seinen Beitrag auf "anderen Wegen" zu leisten.
Warnung vor schmelzenden Gletschern
Wie diese anderen Wege aussehen, zeigt der Film von Regisseur Davis Guggenheim. Das Werk basiert auf einem Diavortrag, den Gore schon seit vielen Jahren hält. Im Film warnt der einstige Vize von Bill Clinton mit Hilfe dieser Fotos und von Videos, Cartoons, Computeranimationen, Grafiken und Statistiken vor den Gefahren des Klimawandels: schmelzende Gletscher, katastrophale Fluten, verheerende Stürme. Eingestreut sind Bilder aus dem Alltag des Vortragsreisenden: Gore doziert, zieht seinen Koffer durch Flughafenhallen und hat das Handy am Ohr.
All dies ist nicht unbedingt der Stoff, aus dem Kassenschlager gemacht werden - umso erstaunlicher das Aufsehen, dass "An Inconvenient Truth" schon vor dem Kinostart erregt hat. Teilweise erklärt sich die Resonanz auf den Gore-Film wohl aus dem in den USA gewachsenen Interesse an Umwelt- und Energiethemen. (rom)