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Politik

"Zivilbevölkerung im Jemen in Geiselhaft"

11. Dezember 2017

Mit scharfen Worten hat UN-Generalsekretär Guterres den Krieg im Jemen verurteilt. Welche humanitäre Katastrophe dieser vergessene Krieg für die Menschen bringt, erläutert Karl-Otto Zentel von der Hilfsorganisation CARE.

Jemen Cholera
Bild: Getty Images/AFP/M. Huwais

DW: Herr Zentel, nach UN-Angaben benötigen von den 28 Millionen Jemeniten mehr als 20 Millionen Menschen Hilfe. Sieben Millionen - also ein Viertel der Bevölkerung - leiden extremen Hunger, Millionen sind an Diphterie oder Cholera erkrankt. Als Generalsekretär von CARE Deutschland waren Sie Anfang des Jahres selbst im Jemen. Was haben Sie dort gesehen?

Karl-Otto Zentel: Das Land ist deutlich gekennzeichnet von knapp drei Jahren Bürgerkrieg. Der Privatsektor ist zusammengebrochen, genauso wie der staatliche Sektor. Die staatlichen Angestellten haben seit vielen Monaten kein Geld mehr bekommen. Die Reserven der Familien sind aufgebraucht. Gleichzeitig haben traditionelle Vorgehensweisen im ländlichen Raum nicht mehr funktioniert: In den Dörfern haben mir die Männer erzählt, dass sie sonst immer drei bis vier Monate im Jahr nach Saudi-Arabien gingen, um dort Geld zu verdienen. Dieses Einkommen, kombiniert mit dem, was in der Landwirtschaft durch die Familien erwirtschaftet wurde, reichte dann, um die Familie zu ernähren. Diese Möglichkeit ist ihnen jetzt genommen. Denn die Grenze war zu, beziehungsweise nur unter großen Gefahren zu überqueren. Das heißt: Einkommen fehlte, Kaufkraft fehlte, und die Not wuchs jeden Tag. 

Zwei Millionen Menschen sind im Land vertrieben. Viele sind in die Städte gezogen, zu Verwandten. Ein Mitarbeiter sagte mir: Vor einem halben Jahr hat mein Gehalt meine Familie ernährt. Jetzt muss mein Gehalt sieben Familien ernähren. 

CARE-Generalsekretär Karl-Otto Zentel war im Frühjahr 2017 im Jemen Bild: DW/I. Wendt

Einer der Gründe, warum es den Menschen dort so schlecht geht, ist ja: Das Land wird von der saudischen Militärallianz blockiert. Hilfslieferungen, Nahrungsmittellieferungen allgemein, Treibstoff, Medikamente - all das kommt zumindest im nördlichen Teil des Landes nicht mehr an. In welcher Weise betrifft das Ihre Arbeit als Hilfsorganisation?

Jemen hat immer 80 bis 90 Prozent seiner Grundnahrungsmittel importieren müssen. Dieser Import erfolgte teilweise über Landwege von Saudi-Arabien, hauptsächlich aber über den Seeweg. Die großen Häfen, über die ein wesentlicher Teil des Umschlags erfolgte, liegen im nördlichen Teil, der jetzt von den Huthi-Rebellen kontrolliert wird. Wenn diese Wege blockiert werden, dann haben sie als Effekt weniger Nahrungsmittel im Land, steigende Preise, die Menschen haben noch weniger Zugang zu Nahrung. 

Seit Anfang November haben wir eine komplette Blockade. Damals machte die Koalition, die den international anerkannten Präsidenten Hadi unterstützt, wirklich die Häfen und auch den ganzen Luftraum dicht. Das heißt, auch Hilfslieferungen können nicht mehr ins Land kommen. Das hat auf unsere Arbeit dramatische Auswirkungen. Ein Beispiel: Chlortabletten, die benötigt werden, um Trinkwasser zu reinigen, gehen zur Neige. Die Gefahr steigt dadurch enorm, dass die Cholera sich noch weiter ausbreitet. Dringend benötigte Impfstoffe gehen zur Neige. Masern und andere Krankheiten können sich stärker ausbreiten. Wir sind ja im Moment schon an einem Punkt, an dem im Jemen alle zehn Minuten ein Kind an einer vermeidbaren Erkrankung stirbt, an einer Durchfallerkrankung, an Mangelernährung, an einer Atemwegserkrankung.

Wird die Zivilbevölkerung zur Geisel genommen in diesem Konflikt?

Ja! Das betrifft alle Parteien. Auch durch die geografische Lage ist die Zivilbevölkerung eingeschlossen. Es gibt kaum Möglichkeiten, aus dem Jemen herauszukommen. Vielleicht wird auch deswegen so wenig über den Konflikt berichtet. Es wird extrem schwer gemacht, dass, zum Beispiel durch Journalistenreisen, Informationen über die Situation im Land die internationale Gemeinschaft erreichen. Da werden sehr viele Hindernisse in den Weg gelegt. Das heißt: Alle Kriegsparteien nehmen hier die eigene Bevölkerung in Geiselhaft. 

Der Hafen von Hodeida, Jemens Nabel zur Welt, wird seit Anfang November komplett blockiertBild: Getty Images/AFP/A. Hyder

Müsste jetzt vielleicht mehr internationaler Druck aufgebaut werden, etwa auf Saudi-Arabien, um zumindest die Blockade der Häfen und auch der Landgrenzen aufzuheben?

Es müsste auf jeden Fall mehr internationaler Druck aufgebaut werden, als das im Moment der Fall ist. Die Situation im Jemen wird viel zu wenig wahrgenommen. Ich glaube, auch deshalb fehlt der nötige Druck. Die Konfliktlösungsmechanismen, die wir auf internationaler Ebene weltweit haben: Im Jemen haben sie bislang versagt. 

Sie müssen sich auch als Hilfsorganisation mit verschiedenen Szenarien befassen. Was ist Ihr Positiv-, was Ihr Negativszenario für den Jemen?

Das Positivszenario wäre Frieden. Ein Friedensabkommen im Jemen in absehbarer Zeit, das alle Parteien unterzeichnen, ist die Grundvoraussetzung dafür, dass sich die Situation im Land nachhaltig und langfristig verbessert. 

Für wie realistisch halten Sie das?

Im Moment für wenig realistisch. Es steht zu befürchten, dass die Situation länger anhält. Der Konflikt ist zu wenig in der Weltöffentlichkeit. Deswegen fehlt der internationale Druck. Und die Parteien die Konfliktparteien sind auch noch nicht so weit gesprächsbereit, wie man sich das wünschen würde. 

Ziel saudischer Bomben: Jemens Hauptstadt SanaaBild: Getty Images/AFP/M. Huwais

Hat der gewaltsame Tod des Ex-Präsidenten Saleh, dieser grauen Eminenz, die im Hintergrund mächtige Strippen zu ziehen verstand, eine Friedenslösung noch weiter erschwert?

Salehs Tod hat zumindest im Moment für CARE, für unsere Mitarbeiter, zu einer deutlich schwierigeren Situation geführt. Seit Anfang Dezember hatten wir Kampfhandlungen auch in Sanaa. Wir haben Kämpfe in Provinzhauptstädten und verstärkte Bombardierungen. Das heißt: Wir mussten unsere Tätigkeiten herunterfahren oder einstellen. Glücklicherweise sind unsere Mitarbeiter alle wohlauf. Aber wir konnten über einen längeren Zeitraum nur sehr eingeschränkt tätig werden. Wichtige Bereiche, etwa wenn es um Wasserversorgung geht, konnten nicht bedient werden. Die Situation für die Bevölkerung hat sich dadurch weiter verschlechtert.

Unser Horror-Szenario wäre, dass durch eine weitere Blockade der Häfen, durch die Einschränkung des Luftraums, dringend benötigte Hilfslieferungen nicht mehr ins Land kommen, dass sich die Cholera weiter ausbreitet, dass vielleicht noch weitere Krankheiten dazukommen, dass sich die Unterernährung der Bevölkerung noch verstärkt.
 
Was können die User tun?

Sie könnten zum Beispiel Abgeordnete anschreiben und sie dazu auffordern, tätig zu werden. Damit kann man einen kleinen Beitrag dazu leisten, auf der internationalen Ebene den nötigen Druck aufzubauen, um zu einer friedlichen Lösung für das Land zu kommen.

Außerdem: Es gab Anfang des Jahres eine große Geberkonferenz für den Jemen. Die hat sehr umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Das war sehr positiv. Aber die damaligen Kalkulationen sind inzwischen schon längst von der Realität überholt. Damals hatten wir noch keinen Cholera-Ausbruch. Inzwischen haben wir knapp eine Million Verdachtsfälle und über 2000 Tote. Das ist nur das, was uns bekannt ist. In vielen Teilen des Landes mag es noch weitere Fälle geben, von denen wir nichts wissen. Und weil durch die Blockade die Nahrungsmittelpreise so drastisch gestiegen sind, sind unsere Berechnungen längst überholt zu dem, was eine Familie zum Überleben an Unterstützung braucht. Das heißt: Es braucht mehr Hilfe. Jede Unterstützung, jede Spende für internationale Organisationen ist gut angebracht.

Karl-Otto Zentel ist Generalsekretär von der auch im Jemen tätigen internationalen Hilfsorganisation CARE.

Die Fragen stellten Oliver Pieper und Matthias von Hein
 

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