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Carlo Chatrian über die Kunst, ein Filmfest zu kuratieren

Sabine Peschel ld
3. August 2018

Das Filmfestival in Locarno ist in vollem Gange. Für den künstlerischen Leiter Chatrian ist es die letzte Saison, ab 2019 leitet er die Berlinale. Im Interview erzählt er von der Kunst, ein Festival zu kuratieren.

Carlo Chatrian, Festivalleiter des Locarno Filmfestival
Bild: Locarno Filmfestival/M.Di Savino

Deutsche Welle: Das Internationale Filmfestival Locarno hat gerade begonnen. Wie war die Atmosphäre in den ersten Tagen?

Carlo Chatrian: Wie immer zu Beginn des Festivals ist die Stimmung energiegeladen. Die Menschen freuen sich auf die neuen Filme und darauf, mit den Gästen ins Gespräch zu kommen.

Die französische Komödie "Les Beaux Ésprits" ("Team Spirit") hat das Filmfest am Mittwochabend (01.08.2018) eröffnet, zusammen mit einem Slapstick-Film von Leo McCarey aus dem Jahr 1929. Ist Humor das Motto des 71. Locarno Festivals?

Wir versuchen, nicht nur ein Thema und einen roten Faden zu verfolgen – wir haben gleich mehrere. Aber ja: eines dieser Leitmotive würde ich als "Leichtigkeit" definieren. Dabei geht es nicht unbedingt nur um Komik, sondern darum, die Dinge mit Leichtigkeit zu betrachten. Das bedeutet aber nicht, dass man die Welt ausgrenzt, in der wir leben – mit all ihren Konflikten, Kontrasten und Spannungen.

Szene aus "Les Beaux Esprits" Bild: picture-alliance/dpa/Locarno Filmfestival

Man könnte sagen, dass die Welt in einem bedenklichen Zustand ist. Und gerade in diesem Jahr haben Sie sich für viele Filme mit persönlichen Geschichten entschieden. Warum?

Das Kino, überhaupt Filme sind immer dann stark und entfalten eine besondere Kraft, wenn sie etwas von einem genau definierten Standpunkt aus erzählen. Das hat einfach etwas mit der Bildsprache zu tun. Bilder sind immer konkret, sie zeigen etwas Bestimmtes, sie sind nicht abstrakt.

Von dieser bestimmten Geschichte ausgehend, können sie einen Blick auf das große Ganze vermitteln. Sie können den Zuschauer dazu bringen, sich ein Bild von der Welt zu machen. Das ist vielleicht etwas, das mir und meiner Generation eigen ist: Ich mag Filme, in denen ich sehen kann, was der Filmemacher sagt. Dann dann kann ich auch nachvollziehen, wie sich das, was ich erkenne, und der Filmemacher unterscheiden. Es geht um den persönlichen Blickwinkel einerseits, und darum, was gesagt wird. Das ist etwas, das meiner Meinung nach jeder Film braucht.

Sie haben für Ihr diesjähriges Programm auch den 14-stündigen argentinischen Film "La flor" von Mariano Linas ausgewählt. Zeichnet es Locarno aus, dass man sich für solch anspruchsvolle cineastische Werke entscheiden kann und das Publikum sie auch zu schätzen weiß?

Ich habe Glück, denn in Locarno haben wir ein sehr neugieriges Publikum. Es hat keine Angst, einen langen oder anspruchsvollen Film zu sehen. "La flor" ist zwar tatsächlich sehr lang, aber gleichzeitig ist es ein Film wie eine sehr lange TV-Serie, voller Geschichte und Schicksale.

Er hat Abschnitte in unterschiedlichen Längen, es gibt Episoden von zwanzig Minuten, und dann gibt es eine von fünf Stunden. Ich bin zuversichtlich, dass das Publikum, wenn es sich erst mal auf dem Film eingelassen hat, mehr davon sehen will. Er ist also kein per se anspruchsvoller Film.

Sind digitale Plattformen eine gute Sache für Filme wie diesen, weil die Zuschauer den Film dann in Abschnitten - in ihrem jeweils eigenen Tempo - ansehen könnten?

Ich glaube, dass die Art und Weise, wie Filme produziert werden, sich mit dem Übergang vom Analogen zum Digitalen völlig verändert hat. Mit den Geräten, die wir jetzt haben, hat sich der Zeitbegriff komplett geändert.

Und ich bin überzeugt, dass die Menschen heutzutage – ich spreche hier nicht vom klassischen Kinopublikum, sondern allgemein – ein anderes Verhältnis zu bewegten Bildern haben. Sie können sich heute einen kurzen Clip auf dem Handy angucken oder eine ganze Nacht vor dem Bildschirm verbringen und eine Fernsehserie ansehen.

Einige der Filme, die wir in diesem Jahr ausgewählt haben, sind in gewisser Weise unsere Reaktion auf diese veränderte Beziehung, die wir zu bewegten Bildern haben.  "La flor" ist meiner Ansicht nach ein Film, der vor 20 Jahren nicht möglich gewesen wäre.

Auf der Piazza Grande in Locarno sind die 71. Filmfestspiele bereits gestartetBild: picture-alliance/A.Wey

Wenn Kritiker über Sie schreiben, erwähnen sie immer den Dualismus von Avantgarde-Kunstfilm und Mainstream-Filmen, den Sie in Ihren sechs Jahren als Direktor des Festivals von Locarno sehr erfolgreich in Ihren Programmen überwunden haben. Ist das eine programmatische Vorstellung, mit der Sie sich identifizieren?

Ich denke, das ist etwas ganz Besonderes von Locarno. Es hängt auch mit dem Ort zusammen, an dem wir die Filme zeigen. In Locarno haben wir dieses unglaubliche Freiluftkino auf der Piazza Grande. Dort können wir populäre Filme zeigen. Ich habe kein Problem mit Mainstream-Blockbustern und populären Filmen. Ich glaube, sie gehören zum Kino und ich sehe mir diese Filme gerne an.

Gleichzeitig nutze ich diese großartige Piazza, auf der Tausende von Menschen Platz finden, um auch andere Filmemacher und Künstler vorzustellen, die noch nicht bekannt sind. Für mich liegt darin kein Widerspruch.

Ich denke, was ein Festival wirklich tun sollte, ist, das Publikum durchzumischen. Wir leben in einer Welt, in der alles kategorisiert ist – auf Streaming Platformen sagt Ihnen ein Algorithmus, welche Art von Film zu Ihnen passt. Ein Filmfestival sollte genau das Gegenteil machen: Es sollte den Zuschauern etwas zeigen, was sie nicht erwarten.

Werden Sie dieses Konzept auch als zukünftiger Leiter der Berlinale weiterverfolgen?

Die Ausrichtung des Programms ist immer abhängig vom Festival, vom Ort, an dem es stattfindet. Jedes Festival hat seine eigene Geschichte. Ich muss zunächst erst einmal verstehen, was Berlin ausmacht, bevor ich darüber nachdenke, was ich auf der Berlinale für Filme zeigen möchte.

Berlin und Locarno sind sehr unterschiedlich, das eine Festival findet im Sommer statt, das andere im Winter; in Locarno wird im Grunde die ganze Stadt zum Festival, Berlin ist eine Großstadt mit einem ganz anderen Publikum.

Gleichzeitig sind die Berlinale und die Filmfestspiele Locarno beide hoch professionell organisierte Publikumsfestivals. In diesem Sinne denke ich, dass es sinnvoll sein kann, ganz verschiedene Arten von Filmen zu präsentieren. Aber ich denke, das ist etwas, was in Berlin bereits stattfindet.

Wenn Kritiker über Sie schreiben, sprechen sie immer von einem "eingefleischten Cineasten". Sie "brennen für das Kino", sagen sie – und, dass Sie mit Ihren Programmen für Locarno viel Mut bewiesen hätten. Haben Sie immer noch das Gefühl, dass Sie viel Mut brauchen – vielleicht auch gerade jetzt in Hinblick auf Berlin?

(Lacht) Es braucht Mut, ein Festival in der Größe von Locarno zu leiten, und natürlich braucht es noch mehr Mut, ein Festival zu leiten, das noch größer und prestigeträchtiger ist, eines wie die Berlinale. Aber gleichzeitig ist so ein Festival nicht allein die Arbeit einer Person - es ist das Werk eines Teams.

Aber es ist interessant, dass Sie den Mut erwähnen, denn das ist eines unserer Themen dieses Jahr. In diesem Jahr feiern wir den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wir haben mit Vertretern der Vereinten Nationen über den Mut gesprochen, der damals erforderlich war, um dieses großartige Dokument zu verfassen. Diese Menschen haben großen Mut bewiesen! Es war eine dunkle Zeit damals, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Entdeckung der Vernichtungslager der Nazis.

Heute haben wir viele Zukunftsängste und machen uns Sorgen um alle möglichen Entwicklungen in der Welt. Aber wenn wir auf die Vergangenheit blicken und auch auf die Entwicklung der Freundlichkeit unter den Menschen seit 1948, als die Menschenrechtserklärung verabschiedet wurde, bis heute, dann, finde ich, gibt es gute Gründe, optimistisch zu sein. Und dann wird auch klar, was Mut bedeutet.

Eine Freude für jeden Festivalleiter: 8000 Sitze für FilmliebhaberBild: picture-alliance/dpa/Keystone/U. Flueeler

Aktuell sind Sie noch intensiv mit dem laufenden Festival beschäftigt. Trotzdem, wie fühlt es sich an zu wissen, dass dies Ihr letztes Festival als künstlerischer Leiter in Locarno ist, dass Sie sich am 11. August vom Publikum verabschieden müssen? Denken Sie schon manchmal über ein Fazit nach, das Sie ziehen könnten? 

Ich stecke mitten im Filmfestival. Ich bin froh, dass ich viel zu tun und keine Zeit habe, um nostalgisch zu werden. Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass dies mein letztes Festival hier sein wird. Aber ich ziehe es vor, mit einem Lächeln zu gehen und nicht in Nostalgie zu verfallen, denn das Festival hängt nicht an meiner Person. Das Locarno Festival endet nicht mit Carlo. Ich war Teil einer größeren Geschichte und das Filmfestival wird weitergehen. Nein, wir sind alle nur Teil einer größeren Geschichte.

Das Gespräch führte Sabine Peschel.

 

Der 1971 in Turin geborene Carlo Chatrian ist seit 2012 künstlerischer Leiter des Filmfestivals von Locarno, dessen 71. Ausgabe am Mittwoch, 1. August 2018, startete. Mit zwölf Sektionen, drei Wettbewerben und insgesamt 25 verschiedenen Preisen setzt das Locarno Festival auf Vielfalt. Der Gewinner des Goldenen Leoparden wird am Samstag, 11. August, bekanntgegeben. Für Carlo Chatrian ist es seine Abschlusssaison in Locarno. 2020 wird auf der Berlinale das erste von ihm als künstlerischer Direktor verantwortete Programm zu sehen sein..

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